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WissenDurst s.62-64

WissensDurst öffnete die Akten, in denen sich die wichtigsten Beobachtungen über jeden Klienten befinden, die jede Schicht in das Pflegetagebuch einträgt. Er hat die Mittagsschicht, von vierzehn bis zweiundzwanzig Uhr, mit der Pflege von sechs demenzkranken Personen im Alter von 74, 76, 52, 85, 88 und 104 in einer betreuten Wohnung verbracht. Was soll er eintragen? Wie viel wer gegessen und getrunken hat, ob sie Stuhlgang hatten, gibt es sichtbare Veränderungen am Körper oder im Verhalten, wie jeder den Nachmittag verbracht hat, sich an den Vorgaben der Pflege- und Schichtorganisation orientierend: fünfzehn Uhr – alle an einen Tisch setzen und mit Kaffee und Kuchen bedienen, um achtzehn Uhr gemeinsames Abendessen, danach einen nach dem anderen für das Schlafengehen vorbereiten – Toilettengang, Waschen, Umziehen, Bett?! Jedem zu bestimmter Zeit Medikamente verteilen und Wege finden, dass sie diese herunterschlucken, wofür man manchmal richtig knifflige Tricks parat haben muss. Anschließend, muss man sich setzten und alle Beobachtungen und Pflegeleistungen in das Pflegetagebuch eintragen. Danach muss man den Abfall einsammeln, Spülmaschine mit Geschirr, Waschmaschinen mit Kleidung, Bettzeug, Handtüchern befüllen und andere Schmierereien erledigen; die Böden, Toiletten und Bäder waschen, erst dann, kann man sich hinsetzten und die Nachtschicht abwarten, und nachdem man sie über alle Neuigkeiten informiert hat, die Schicht übergeben.

 

Identität (lat. Īdem ‘derselbe’/’dasselbe’) ist die Gesamtheit, die eine Person oder einen Gegenstand kennzeichnet und als Individuum von allen anderen unterscheidenden Eigentümlichkeiten beschreibt. Wenn wir vom Menschen sprechen, sprechen wir über seine Eigenschaften. Was kann man über die Identität der sechs Pflegefälle, die auf meine Initiative von WissensDurst gepflegt werden, sagen? Es ist dieser Moment, der zählt. Bei den einen dauert es lange, bis sie die letzte Reise antreten, jedoch ist es genau dieser Moment, der wahrhaftig gelebt wird, und diejenigen in Beschlag nimmt, die sich mit ihnen beschäftigen, die das ganze Verrinnen der Zeit abarbeiten und erleben. Jedes getrunkene Milligramm und heruntergeschluckte Löffelchen dient der Erhaltung und fördert die Dauer. Wer sind diese Menschen, fragte er sich oft, als er vor sich hin redend den Moment abwartete, um einen Löffel Brei mit zerkrümelter Tablette in den Mund zu führen, und auf diese Art, das unter Altersschwäche leidende, kraftlose Kind „überzeugt“), das Angebotene zu schlucken.

Das Öffnen des Mundes und das Schlucken erlebte er als instinktive Tätigkeit, über die, die vor ihm sitzen nicht entscheiden und sich dessen nicht bewusst sind.

Zuerst richtete er das Kopfteil des Bettes einer ans Bett gefesselten, älteren Dame, die von einem Schlaganfall betroffenen ist auf. Sie zwinkerte nicht einmal mit den Augen. Ihr starrer Blick mit weit geöffneten Augen verlagerte sich durch diese Tätigkeit, jedoch konnte er nicht beurteilen, ob sie das überhaupt wahrgenommen hat. Ihr Gesicht ist abgerundet, aus einer gelbgrauen Mischung, der Unterkiefer und das Kinn sind unter der Nase eingefallen, zahnlos.

Und als er den Brei in diesen Schlitz befördert hatte, fing es schnell an, fast unkontrolliert, schien es, zu schmatzen, gefolgt vom Klang getrockneter Spucke, wenn man mit der Bewegung des Kiefers versucht, ein Tröpfchen „Schweiß“ aus dem Mundwinkel zu pressen. Mit einer Reihe einzelner Reflexe, die folgten, fing das Herunterschlucken der Nahrung an.

Aber das was nun vor seinen Augen passierte, war mehr ein Herunterwürgen aus panischem Instinkt heraus, um nicht zu ersticken, und nicht der Wunsch nach Essen; ein Gaumenschmaus war das sicherlich nicht. Der Brei ist nun im Rachen, das ist aber nur als zerhacktes Zucken der linken Seite des Halses mit hängender Haut zu erkennen; der Weg zur Speiseröhre ist gefunden. Jetzt nur hoffen, dass er nicht aus der Cardia, der oberen Magengegend zurückfließt, und sie alles erbricht. Nein, nein, dem ist nicht so, es ist ein erfahrener Körper, kein Neugeborenes. Sie hat ihn runtergeschluckt. Verschnaufpause, sie muss sich von dieser Strapaze erholen, und weiter – noch ein Löffel. Bei dieser Gelegenheit hat sie sechs volle Löffel verarbeitet, aber dann hat sich der Schlitz unter der Nase, die Mundkeile fest verschlossen, als wäre sie verklebt.

Was ist die Biografie, Curriculum Vitae, Biografie, CV?

Ein Dokument, das auf wirksame und verständliche Weise die Eigenschaften und Qualifikationen einer Person darstellt; eine Ansammlung von Details aus dem Leben einer Person; Tatsachen und/oder Auslegungen.

Wie kann man den Schluckreflex verfeinern, um bei der Nahrungsaufnahme Genuss zu empfinden?

Biografie, bios = Leben, graphos = schreiben, sprich: Das Leben (auf)schreiben.

Hatte die Dame heute schon Stuhlgang? Hat das Kind Kacka gemacht? Man muss an alles denken, es darf nicht zur Verstopfung kommen. Essen und schlafen, die elementaren Grundbedürfnisse befriedigen, oder ganz nach dem Spruch: Am Ende existiert der Mensch nur durch seine Bedürfnisse[1], das ist das Motto zur Lebenserhaltung oder am Leben zu bleiben.

Biografie – Lebenslauf!

Im biografischen Theater wird die Lebenserfahrung, die Lebensgeschichte, Auszüge aus einem Leben, die persönliche Weltanschauung, die Reaktion in einer oder mehreren Situationen dargestellt.

Man könnte sagen, der Schauspieler spielt sich selbst.

Diesen Ernährungsprozess, von dem mir WissensDurst berichtete, kann man nicht spielen. Das instinktive Zucken des Körpers am Ende des Lebens… nein, das ist unmöglich darzustellen.

Božidar Violić hat das sehr gut gemeistert, im Stück „Die verlorene Heimat“ nach dem Roman von Slobodan Novak, in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Theater ITD in Zagreb. Er hat die Schauspielerin Neva Subotić, die eine Greisin spielte, die ans Bett gefesselt war, einfach vom Publikum weggedreht. Wir betrachteten den Kopfteil eines altertümlichen Bettes inmitten der Bühne, lauschten der Stimme einer Greisin, und von Zeit zu Zeit erlebten wir ihre Hände, die scheinbar grundlos ins Leere und gleichermaßen aus unserem Blickfeld sprangen. Ich habe mir dieses Stück wiederholt angesehen, da es meines Erachtens mit dieser Art der Theaterrealität getränkt und weit von der Imitation enfernt war, sondern die Tatsachen haarscharf auf den Punkt brachte. Glänzende Regie, bemerkenswerte Schauspieler, die Magie der Bühne beflügelte auch den Zuschauerraum.

Die Theaterarbeit ist ein kraftvolles Instrument bei der Selbstfindung, Selbsterkenntnis oder der erneuten Erkenntnis, für den Dialog mit der eigenen Person und mit anderen.

Wenn man die sogenannte biografische Methode nutzt, um die Ereignisse aus den Proben zu ordnen und sie in das Stück zu integrieren, dann muss man, soweit ich das aus eigener Erfahrung weiß, eine Taktik austüfteln, die es dem Darsteller ermöglicht, die Kontrolle zu verlieren, indem er sich selbst kreiert. Man muss einen Dialog mit dem Unterbewusstsein aufbauen. Wie erreicht man das? Das ist schwer zu sagen. Empfindsamkeit, Empfindsamkeit und nochmals Empfindsamkeit zeigen, für andere und dafür, was solch eine Beobachtung in mir selbst verändert. Durch Intuition, Herumtappen, Improvisation, Kühnheit. Durch direkten Kontakt mit der Person oder den Personen, mit der oder mit denen man arbeitet. Das steht an erster Stelle. In diesem Fall muss man die Skizze der Aufführung in der Person finden, die der Leiter/Provokateur/Therapeut/Pädagoge/Regisseur – wie immer diese Personen auch heißen mag, vor sich stehen hat. Er muss das Stück in der/den konkreten Person(en) suchen.

Kann man eine Aufführung mit unter Demenz leidenden Personen machen?

Der Leiter dieses Prozesses muss sich auf den Kontakt mit der einzelnen Person einlassen, und kann nicht erwarten, einem von vornherein bekannten Konzept zu folgen. Der Kontakt führt ihn in ein Labyrinth, und falls die Sterne richtig stehen, findet er den Weg aus dem Labyrinth heraus und kreiert ein Stück.

Ist es möglich ein Stück zu kreieren, anhand der ungespielten Vergessenheit?

Vergessen. Vergessen, etwas vergessen zu haben, als der Anfang der Arbeit an einem Stück. „Bald – und du hast alles vergessen. Bald – und alles hat dich vergessen.“ – ist die Aussage Mark Aurels[2].

Wann werde ich dieses Stück regieren? Werde ich ihr Regisseur oder Schauspieler sein?

[1] Zitat von Christian Friedrich Hebbel

[2] Marc Aurel, Selbstbetrachtungen VII, 21

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