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11. Ich führe meine Geschichte der unbewussten Gedanken spazieren

– aus meinem Notizbuch –

 

„Das bin ich nicht, ich bin eigentlich ganz anders!“, das ist einer der Sätze, den ich am häufigsten in der Psychiatrieabteilung höre. Bedeutet das, dass behandelte Patienten bei der Therapie einen Fremdeinfluss fühlen? Bezeichnet diese Aussage ein Geschehen oder ein Erlebnis? Ist diese Aussage ein Bindemittel, das die Zerstreuung der Persönlichkeit zusammenhält?

Ich führe meine Geschichte spazieren. Nichts Weiteres.

Oft ist es meine Aufgabe einen Kontakt mit Menschen aufzubauen, die kürzlich versucht haben, sich das Leben zu nehmen, und aufzupassen, dass sie das nicht in der Abteilung wiederholen. Mit einigen habe ich nur über mehrere Stunden in der Stille gesessen, wobei wir uns dabei aber sehr gründlich und interessiert beobachtet haben. Manchmal hatte ich Erfolg mit einem Stift auf weißem Papier etwas niederzuschreiben oder aufzumalen und dieses gemeinsam durch Assoziationen zu deuten.

 

Mit anderen wiederum konnte ich einen Dialog aufbauen, über Themen, die aus ihnen heraus kamen, und zwar mich mit Liedtexten bedienend, die ich in diesem Moment anregend fand. Bei einigen musste ich die Stimme heben, um auf diese Weise einen erneuten Suizidversuch zu unterbinden, wenn sie versuchten sich mit erfinderischen Methoden das Leben zu nehmen, wie zum Beispiel, mit dem Kopf an die Wand zu rennen, oder sich die Fingernägel in die Venen bohrten, oder etwa versuchten sich mit einem Faden den Hals zu durchtrennen, den sie, wer weiß, wo her hatten.

Ich habe bemerkt, dass die Personen, die versuchen das Hier und Jetzt zu verlassen sehr ruhig und konzentriert sind, erpicht darauf einen Gegenstand zu finden, der es ihnen ermöglicht ihren Plan in die Tat umzusetzen. Es gibt eine andere Gruppe der suizidalen Patienten, die, wenn ich das so oberflächlich sagen darf, versuchen durch einen spektakulären Auftritt der Wut und Aggressivität, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sozusagen einen Hilfeschrei von sich zu geben. Der Umgang mit der ersten Gruppe ist um einiges komplexer und unberechenbarer.

Ich führe meine Geschichte spazieren. Nichts Weiteres.

Nun denn! Acht Stunden meiner Arbeitszeit verbringe ich mit einem erfolglosen Selbstmörder. Wie färbt diese Situation auf mich ab? Ich frage mich immer wieder – welches kleine Fenster kann ich für ihn aufsperren, damit er die Augen öffnet, denn die üblichen Geschichten darüber, wie schön das Leben doch sei, die haben hier keine Aussagekraft.

 

„Sterben −, nun, ich weiß; das hat es schon gegeben; doch: auch Leben gab‘s ja schon einmal.“[1], schreibt Sergei Jessenin, einer der Autoren, dessen Autobiografie wir anhand seiner Gedichte lesen können.

Ich führe meine Geschichte spazieren. Nichts Weiteres.

Autoren, die sich in ihrem Werk auf ihr reales Leben und die Fantasien, die das eigene Leben bereithält, besinnen, schreiben meist in einer Reihenfolge der Ereignisse und Erlebnisse, mit gelegentlich möglichen Zeitsprüngen. Man kann diese Chronologie in den Lebenslauf des Autors eingliedern. Das bedeutet nicht, dass die Chronologie des Geschriebenen immer im Einklang steht mit der Chronologie des Erlebten, da der Autor manche Erlebnisse auch jahrelang verarbeitet, bzw. immer wieder auf sie zurückgreift. Die Chronologie eines Lebenslaufes muss man in seinem Inhalt suchen, in der Themenwahl; dann öffnet sich dem Forscher ein Leben der Erlebnisse und der Verarbeitung des Erlebten. Es ist eine universelle Intimität, ein Gespinst der Seele im Lärm der Eigenheit.

Ich führe meine Geschichte spazieren. Nichts Weiteres.

[1] Sergei Alexandrowitsch Jessenin, Zitat aus dem Gedicht, dass er 1925 umittelbar vor seinem Freitod geschrieben hat

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