WissensDurst s. 71-73
Meiner Meinung nach ist es unmöglich diesen Satz des Dieners am Ende der Aufführung auszusprechen, ohne Lachen, als Reaktion des Publikums, hervorzurufen. War das an dieser Stelle so von Krleža beabsichtigt?
Kurz nach Mitternacht, und nachdem er die letzten Vorkehrungen vor dem Schlafengehen getroffen hatte, hob WissensDurst sie mit dem Pflegelift aus dem Sessel, legte sie vorsichtig ins Bett, mit dem Kopf auf das Kissen, danach hob er ein schweres und geschwollenes Bein nach dem anderen in die Liegeposition; er deckte sie mit der Bettdecke zu und wünschte ihr eine gute Nacht. Er ließ im Zimmer das Nachtlicht brennen und ging zum Gang hinaus, wo er sich gründlich die Hände desinfizierte und tief einatmete, um zu verschnaufen.
Am Morgen, schon beim ersten Rundgang, stellte die Pflegerin aus der Morgenschicht den Tod bei dieser Bewohnerin des Heims für ältere und behinderte Personen fest. Sie war Schneiderin und die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens, von ihren 87 erlebten, hat sie, gleich nach dem Tod ihres Ehemannes, im Heim verbracht. Ihr Sohn lebt in Übersee und hat sie das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen. Über den Tod seiner Mutter wurde er per E-Mail informiert. Ob er es schafft zur Beerdigung zu kommen?
- DAS FREMDE IN MIR
– Triptychon –
I
Aidagara-shugi, die Fokussierung auf andere, gibt einem Kraft bis in das tiefe Alter, glauben die Japaner.
Ich höre, Yoshi ist zurück nach Japan gegangen.
Ist das Theater nicht eigentlich die tägliche Fokussierung auf andere? Den anderen in sich selbst und den anderen im Zuschauerraum?
In Heimen für Senioren und Behinderte im Land der aufgehenden Sonne werden einmal wöchentlich Gruppengespräche geführt, in denen jeder Einzelne darüber spricht, was er in der vergangenen Woche für jemanden anderen getan hat, wie er jemandem geholfen hat, was dabei bemerkenswert war, über das, woran er sich erinnern kann. Ein älterer Herr erzählte bei einem dieser Gespräche, er hätte enorme Angst vom Sterben gehabt und entschloss sich jeden Tag, kleine Abfallreste, die er auf dem Flur oder im Zimmer, bzw. überall im Heim, wo er etwas fand, was anderen entgangen war, in einen Plastikbeutel aufzusammeln. Das half ihm sich zu beruhigen und er fühlte sich etwas besser.
Und so sammelte er seine und die Abfallreste von anderen, kehrte vor seiner Tür und auf den gemeinsamen Fluren und Räumen, und starb kurz danach in Frieden.
In Hamburg, in der Nähe des Hafens, um 1923, 1924 „… in einem, der rosa Zimmer… starb unverhofft, an einer Lungenentzündung, die Prostituierte Marijeta. Der Ukrainer Bandura, Matrose und Revolutionär behauptete, dass sie ‚an der Liebe‘ gestorben ist. Er konnte ihrem göttlichen Körper keine Banalität anhaften, wobei die Lungenentzündung eine ‚Krankheit der Bourgeoise‘ ist.“ – schrieb Danilo Kiš in seiner Kurzgeschichte „Die Totenehrung“.
„Sie wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. (…) Du brauchst keine Sorge zu haben – röchelte Bandura – keine Hure auf der Welt wurde aufrichtiger betrauert als sie. (…) Und keine mit größeren Ehren begraben. Für Marijetas Begräbnis wurden die Blumenbeete der Treibhäuser ausgeraubt und die Gärten der Villen am Stadtrand verwüstet. Hunde bellten die ganze Nacht, Doggen und Schäferhunde wurden herbeigerufen, sich aus ihren Ketten reißend, die einem Dornenkranz ähnelten; (…)
An Marijetas Grab wurden Rosensträuße gebracht, weiße und rote, frisch geschnittene Pinienzweige, Tulpen und Chrysanthemen, Tuberosen, himmelblaue Hortensien, dekadente sezessionistische Iris, diese unzüchtigen Blumen, Hyazinthe und teure schwarze Tulpen, die Blumen der Nacht, wächserne Totenlilien, die Blume der Unschuld und der ersten Kommunion, lilafarbene Flieder, die an die Verwesung erinnern, erbärmliche Hortensien und missgebildete Gladiolen mit einer eingebundenen Mystik eines Schwertes – und – Rosen, all das zum Zeichen eines verrotteten Reichtums (…) Marijeta wurde keine Rolle zu Teil – weder die Rolle der Hausfrau noch der Weberin, noch der Studentin, oder der Novizin – nur sie brauchte keine komplexe und lang eingeübte Choreografie; sie war einzigartig, originell; sie war eine Hafen-Hure.
Sie mochte und half Matrosen aus allen Häfen, brüllte Bandura am offenen Grab, als würde er in einem Meeting sprechen – und sie hatte keine Vorurteile gegenüber der Hautfarbe, der Rasse oder der Religion. An ihren Busen, klein, aber fein, wie man von Napoleon Bonaparte, Herrscher des Verbrechens, hören konnte, haben sich verschwitzte schwarze Brüste von Matrosen aus New York, gelbe haarlose Brüste von Malaien, Beerentatzen von Hamburger Dockern und tätowierte Brüste von Hafenarbeitern am Albert-Kanal geschmiegt; in ihren lilienförmigen Hals haben sich das maltesische Kreuz, das Kruzifix und der Davidstern, russische Ikonen und Haizähne und Talismane in Form einer Alraunenwurzel, aufgepresst, als Zeichen der universellen Brüderlichkeit zwischen den Menschen, und entlang ihren sanften Oberschenkeln ist ein Fluss an heißem Sperma in ihre warme Vagina geflossen, wie in den Heimathafen aller Matrosen, wie in die Mündung aller Flüsse…“
Für das Stück „Ulysses, oder der Kyklop und seine Nashörner“ habe ich Bandura der Trauergesellschaft zu Ehren Paddy Dignams angeschlossen, die im 6. Artikel – Hades, in Joyces Novelle „Ulysses“ beschrieben wurde. In der fünften Szene des Stücks habe ich die Beerdigung auf dem Friedhof über den Köpfen, unter einem Himmel aus menschlichen Knochen dargestellt. Die Totenehrung auf einem Friedhof, der in Flammen lebt – Paralyse; eine Beerdigung, bei der gesungen wird – Paralyse, und gefeiert wird – Paralyse; Paralyse – Leben – Paralyse.
„In der Titelstory der Enzyklopädie der Toten erkrankte der Vater der Hauptfigur an Krebs. (…) Ich war ziemlich perplex, als ich letzten November erfuhr, dass ich selbst Lungenkrebs habe. Ich sagte zu mir: Das ist die Strafe. Der Zeitraum, in dem ich diese Geschichte geschrieben habe, überlappte sich natürlich mit dem Zeitraum der Entwicklung meines Sarkoms, meiner Geschwulst. Diese Parallele hat mich enorm beeinflusst.“[1]
Am 15. Oktober 1989 ist er in Paris gestorben, doch er wurde, auf eigenen Wunsch in Belgrad, nach dem christlich-orthodoxen Ritual beigesetzt. Borislav Pekić hat in diesen Tagen geschrieben: „In den letzten, für einen Lebenden, ersichtlichen Momenten, fragte Danilo ein treuer Freund, ob er Schmerzen hätte. Er sagte, „ja“. „Was tut dir weh?“, fragte der Freund. „Das Leben“, antwortete Danilo.“[2]
Aus Schlingensiefs Lebenslauf und teils auch aus meiner eigenen Erfahrung, als ich mir seine Stücke anschaute, weiß ich, dass er in seinen zahlreichen Projekten, Theaterstücken, Kunstaktionen, Filmen seine wagemutigen Überlegungen immer weitergeführt hat. Er war inspiriert von Joseph Beuys Werk und so entstand auch seine Kreation, der sogenannte Animatograph, eine sich fortbewegende Fotoplatte in Form einer Drehbühne, die er das erste Mal 2005 in Reykjavik beim Art Festival vorgestellt hatte. Aus einer Reihe von Installationen ist vor allem eine hervorzuheben, „The African Twin Towers“ in Namibia in den Jahren 2005/2006 vorgestellt. Diese Installation wurde mit der gleichzeitigen Projektion auf 18 Monitoren mit den Themen: Richard Wagner, der Terroranschlag vom 11.09.2001, Hagen von Tronje, Odin und Edda, über die Herero – einem afrikanischen Hirtenvolk, über die Toten, den Geistern der Gegenwart und der Vergangenheit, realisiert.
Der Aussichtspunkt (Blickkontakt) ist eine rotierende Drehscheibe – ein Animatograph auf einem Segelschiff mit zwei Masten, an denen die Twin Towers aufgehängt sind. Das Schiff war in Lüderitz, Namibia, einer ehemaligen deutschen Kolonie verankert.
Bei Projektionen, die parallel, also gleichzeitig stattfinden, entsteht ein unüberschaubares Universum, das auf den Zuschauer aufprallt. Deutsche Kritiker haben das mit Wagners Parsifal verglichen: „Hier, schau her, mein Freund: Zum Raum wird hier die Zeit.“[3]
Gibt es einen Raum mit leerer Zeit? Einen luftleeren Raum gibt es, nicht wahr? Ist der Raum etwa immer die Zeit? Die Zeit des leeren Raums – wo ist das? Im Geiste?
Obwohl ich nie richtig Gefallen an Stücken mit Videoaufzeichnungen oder –projektionen finden konnte, habe ich mir eine Reihe davon angeschaut. Eine, der Aufführungen, die mich mit Projektionen, Bildschirmen und verschiedenen Perspektiven bombardiert und manipuliert hat, ist sicherlich die hochgepriesene Aufführung von Dostojewskis „Idiot“ unter der Regie von Frank Castorf an der Volksbühne Berlin. Das Einzige was mich über diese bewusste Zerstörung des Theaters hinwegtrösten konnte, war der Gang ins Irish Pub, wo ich meinen Kummer in bitterem, starken, irischem Guinness ertränken konnte.
Mir scheint, gerade weil ich nicht auf dem Segelschiff in Namibia war und diese Installation von Schlingensief gesehen habe, kann ich die nötige Distanz wahren und meinen Gedanken freien Lauf lassen. Ich frage mich immer von Neuem: Leben wir im leeren Raum oder in einer leeren Zeit? Und was hat es mit der Kunst auf sich? Ist es eine Kunst der Leere? Was sollte man über die Leere der Kunst sagen? Kann sie ausreichend leer sein, um so die Leere zu reflektieren? Spricht man dann überhaupt noch von Kunst?
Schlingensiefs Themen kreisten beständig um die Frage nach Gott, das Vergeben und die Erlösung, sowie den Sinn aller Kunst. Die Veränderung und die Entwicklung der eigenen Gedanken durch die Krebserkrankung, die ihn heimgesucht hatte, verarbeitet er auch intensiv in seinen Aufführungen.
„Der Zwischenstand der Dinge“ am Maxim-Gorki-Theater (2008), Fluxusoratorium „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, der ReadyMade-Oper „Mea Culpa“ am Wiener Burgtheater und „Sterben lernen – Herr Andersen stirbt in 60 Minuten“ , 2009.
Christoph Schlingensief, deutscher Film- und Theaterregisseur, Autor und Aktionskünstler. Er wurde 1960 in Oberhausen geboren und starb am 21. Oktober 2010 in Berlin.
„Das Leben ist ein Kunstwerk, und das Kunstwerk ist Leben.“[4] – Dieser Gedanke wurde vor allem von der künstlerischen Bewegung der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts unter dem Namen Fluxus geprägt. Dieser Begriff stellt gleichzeitig eine Form der Aktionskunst dar, als fließenden Übergang zwischen Kunst und Leben bzw. der Konformität von Kunst und Leben. Das Leben der Kunst ist sozusagen die Lebenskunst.
In seinen letzten Inszenierungen, manchmal glaubte er an das Wunder der Genesung, obwohl er wusste, dass der Tod nahte, konfrontierte er sich im eigenen Körper und in den eigenen Gedanken; in der Szene und im Arrangement auf der Bühne, mit der Angst vor dem Fremden in sich.
„Und dann die Nerven, auf denen das Universum musiziert;
Und diese Lunge, mit der die übermütige Gottheit atmet;
Alles was war und ist und sein wird, an die Brust gezogen berührt sie,
ich bin der Staub und das Leben und die Ganzheit des Lichts und nichts mehr.“[5]
[2] Aussichten 4-5/1990, 66 (Original: Vidici 4-5/1990, 66)
[4] Emmett Williams
[5] Tin Ujević, Strophe aus dem Lied„Hymnodia to mou somati”, dt. von Alida Bremer
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