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WissensDurst s. 68-70

Fangen wir an: Beine vom Bett runter, kurz setzten, und eins, zwei, drei, aufstehen und sich an Wissi lehnen, einen kleinen Schritt, Umdrehung, fahrbarer Stuhl, Tutu, wir fahren bis zur Schüssel, und wieder, eins, zwei, drei, ein kleiner Schritt, Pampers ausziehen, gleichzeitig festhalten, dass sie nicht runter fällt, setzen… – Ich bin vor der Tür, sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie fertig sind.

Die Wiedererkennung passiert, wenn uns das Gesehene in einem Augenblick eine Assoziation von Bildern produziert, die wir bereits erlebt haben. Ich spreche von Erlebtem, da ich kaum glauben kann, dass wir etwas lediglich Gesehenes auch wiedererkennen würden.
Guten Morgen, der Herr! – völlig unangebracht, das fühlte er sofort, als er es ausgesprochen hatte. WissensDurst begrüßte die Person im Bett, die dermaßen gelähmt und auf Hilfe angewiesen war, dass sie lediglich mit den Bewegungen der linken Hand Informationen bestätigen und eventuell auf diese Weise eine Antwort entsenden konnte.
Mit den Worten, – wir werden gemeinsam die nächsten drei Tage in der Morgenschicht verbringen – näherte er sich dem besten Berliner Ballettänzer, einem Japaner, den der Ausbruch der MS, neben einer Reihe anderer Krankheiten, die wie aus einer Kettenreaktion entstanden, mit der Zeit in dieses Stadium gebracht hat.
Das Stadium des Zerrinnens.
Die modernste Pflegetechnik ist in diesen Prozess eingebunden, samt ständiger Betreuung durch einen Pfleger direkt neben dem völlig computerisierten Bett des Tänzers.
Drei unvergessliche Tage hat WissensDurst, in eine Schutzuniform gekleidet, damit mögliche Infektionen vermieden werden, an seiner Seite verbracht. Er wendete seinen Körper alle zwei Stunden, damit er keine Wunden von der Bettlägerigkeit bekommt, zudem hat er ihn von Kopf bis Fuß gewaschen, mit einer Schutzcreme eingerieben und seine Windeln gewechselt, wenn er einen schwarz-gelben verdünnten Kot ausließ, er verfolgte die Apparate, an die er angeschlossen war…….
Die Ehefrau des Patienten kam jeden Tag zu Besuch und blieb eine halbe Stunde, auf eigenen Wunsch, allein mit ihm im Zimmer. Die Ehefrau ist eine sehr dynamische Person, Kostümbildnerin aus Südkorea. Sie war noch immer im Arbeitsverhältnis und hatte sich offensichtlich an diese Situation gewöhnt, daher nutzte sie die Besuche bei ihrem Ehemann als Momente der Stille, der Konzentration, des Friedens. Sie hielt seine Hand und streichelte noch die letzten Bewegungen. Eine Koreanerin und ein Japaner, zusammen, in guten, wie in schlechten Zeiten, huschte mir der Gedanke über die tagespolitischen Feindschaften durch den Kopf.
Im Zimmer spielte ununterbrochen, 24 Stunden lang, Tag ein, Tag aus klassische Musik vom Sender Klassik Radio.
Woran erinnert er sich noch in diesem Stadium? Lebt die Erinnerung noch?
Kommen Bilder von den Aufführungen hoch, von Ovationen des Publikums, von den Proben, Vorbereitungen, Trainings, Kollegen….?
Ist dieser Radiosender wirklich das, was er hören möchte?
Soll diese Musik die Erinnerung fördern? Aus vielen Studien ist bekannt, dass Patienten, die lange krank und ans Bett gefesselt sind, mit geschlossenen Augen die Stadt, das Viertel, die Straße, in der sie gelebt haben, sehen und präzise beschreiben können, und in der Fantasie durch diese Orte spazieren können. Jedoch, wenn sie nach der Genesung auch wirklich an einen dieser Plätze gehen, können sie ihn nicht wiedererkennen und empfinden ihn als etwas ganz Neues.
Macht dieser Patient mithilfe der Musik einen Spaziergang durch bekannte Orte und hilft sie ihm in dieser unerwünschten Situation?
Bilder entstehen aus der Bewegung heraus; die Bewegung ist ein wichtiges Element im Bühnengeschehen. Einst gespielte Bilder bleiben im Erinnerungsdepot bestehen, um irgendwann einmal, ganz ungeplant, in einer Situation zum Leben erweckt zu werden, wenn man etwas anderes erblickt, was sie assoziativ entfacht. Man könnte sagen, dass die benebelte Wahrnehmung in einem Augenblick ein klares Bild im Schatz der Erinnerungen erweckt.
Kann man wirklich alles vergessen?
Es gibt Schauspieler, die Angst haben ihren Text zu vergessen. Es gibt Schauspieler, die ohne einen Souffleur nicht auf die Bühne gehen. Weiterhin gibt es Schauspieler, die niemals den ganzen Text auswendig lernen, sondern lediglich den Inhalt des Textes und alle Schlusswörter, damit ihr Schauspielpartner antworten kann. Es gibt auch solche, die regelmäßig einen Teil des Textes vergessen. Je nach der Neurologie des Schauspiels muss man den Schauspielpartner und den Regisseur bestimmen können; man muss sich in den Situationen, in denen etwas vergessen wurde, zurechtfinden können.
Es wäre interessant eine Bühnenfantasie zu kreieren, aus den Sätzen, die die erwählte Schauspielerin und der erwählte Schauspieler, während ihrer Karriere vergessen haben auszusprechen. Ich denke nicht, dass dieser Schatz an vergessenen Sätzen jemals aufgeschrieben wurde, trotzdem bin ich der Überzeugung, dass seine Reflexion vielleicht neue Erkenntnisse über das Gedächtnis und die Vergesslichkeit bringen könnte. Vielleicht sogar ein interessantes Bühnenstück.
Gespielt werden könnte das Stück von denen, deren Verlauf verfolgt wurde; demnach würde ein Stück erstellt, in dem sie die Sätze spielen, die sie vergessen haben auszusprechen.
Lehnt sich unser Leben eher an die Erinnerung oder an das Vergessen?
Man kann tagtäglich mit dem Absterben und dem Sterben rechnen und dass jeder Tod anders ist. WissensDurst hat das öfter aus nächster Nähe erlebt.

(Leo geht auf sie zu. Angelica will ihn zurückhalten, er stößt sie jedoch resolut zurück und nimmt die Schere vom Tisch. Alles spielt sich unter großer Spannung und sehr rasch ab.)
Leo: „Kein einziges Wort mehr!“
Baronin: „Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich in Ruhe! Lassen Sie mich in Ruhe, Sie Mörder!“
(Leo will sie packen, sie kreischt entsetzt auf und flieht aus dem Zimmer, Leo erstarrt für einen Augenblick. Dann stürzt er ihr wie wahnsinnig nach. Man hört wie Türen zugeschlagen werden und Fensterscheiben klirren. Stimme der Baronin: „Hilfe! Hilfe!“ Stille. Dann Stimmengewirr. Wieder werden Türen zugeschlagen. Lärm. Stimmen.)
Kammerdiener: (stürzt herein, blickt suchend um sich, nimmt dann Dr. Altmanns Instrumententasche vom Tisch) „Der Herr Doktor haben die Frau Baronin erstochen!“
Angelica: (steht erstarrt da – wie eine Puppe in einem Wachsfigurenkabinett. Vogelgezwitscher im Garten.)
– beendete Miroslav Krleža den ersten Teil seiner Trilogie, „Die Glembays“.

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