“11. Ich führe meine Geschichte der unbewussten Gedanken spazieren” weitere Seiten
„Und so redeten wir in unserer Zigeuner-Art, dort, an der Tankstelle, wo wir uns gewöhnlich trafen, und sprachen darüber, wohin wir gehen, was und wie wir das machen könnten; wir logen, schwindelten und flunkerten – so ganz normale Sachen, halt. Da sagte einer, dass man in Deutschland ohne Weiteres eine Unterkunft und Geld bekäme, wenn man Asyl beantragt, und was weiß ich was noch. Wie kommen wir nach Deutschland, ist nun die Frage? Dann warf ein anderer ein, er würde uns für 350 Euro pro Person in einem Kombi nach Deutschland schleusen. Ich habe das Geld durch mehrere Diebstähle zusammengetragen und habe ihm das Geld gegeben, um mich dann, mit fünf weiteren Personen, die ich alle kannte, in einem Kombi auf dem Weg nach Deutschland aufzufinden. Er gab uns Tabletten, von denen wir alle einschliefen und, wie er sagte, in Berlin aufwachten. Nachdem er uns kurz erklärt hatte, wie wir uns verhalten sollten, ist er verschwunden“, erzählt mir ein Mann, kurz, nachdem er auf der Abteilung aufgewacht ist, wo er eingewiesen wurde, weil er versuchte sich mit einem Tablettencocktail das Leben zu nehmen und gerettet werden konnte.
Nachdem er gesehen hatte, wie die anderen fünf Männer von der Polizei mit dem ersten Flug nach Bosnien und Herzegowina abgeschoben wurden, nachdem ihr Antrag auf Asyl abgewiesen wurde, hat er es mit der Angst bekommen und versucht sich das Leben zu nehmen. Er war sich dessen bewusst, dass es ihm nicht anders ergehen würde, und da er nicht zurückgehen wollte, bzw. auch nicht wusste, wohin er gehen könnte, hat er sich mit Tabletten vollgestopft, um für immer einzuschlafen. Er wurde durch Zufall gerettet, da ein anderer Asylbewerber den Rettungsdienst gerufen hatte.
Er spricht kein Deutsch, kann weder lesen noch schreiben und weiß nicht genau, wie alt er ist, da er im Bosnienkrieg zur Welt kam und seine Eltern fliehen mussten. Er weiß nicht einmal wer und wo sie sind, so kam es, dass er von einer Zigeunertruppe großgezogen und von klein auf zur Arbeit eingespannt wurde. Die letzten Jahre hat er damit verbracht, als Tageslöhner mit schlechter oder gar keiner Bezahlung über die Runden zu kommen. Oft wurde er auch körperlich misshandelt, mit Zigarettenstümmeln verbrannt, um bloß keine Forderungen zu stellen oder zu wagen dies anzumelden. Ich habe ihm zugehört und mir gleichzeitig gedacht, dass es so etwas doch nur in fiktiven Romanen gibt, und doch, saß ein Mensch aus Fleisch und Blut mit dieser Geschichte vor mir. Die Ärzte haben ihn gereinigt und ihm vorsichtig Beruhigungsmittel verabreicht, genau wie bei anderen Patienten auch, jedoch kann niemand mit ihm kommunizieren, und alle nichtverbalen Versuche der Kommunikation, mit Händen und Füßen, blieben ohne Erfolg.
Ich sitze neben seinem Bett, als sein Handy klingelt, irgendwo in seinem Bett versteckt, er tastet nach ihm, erstrahlt, als er die Stimme auf der anderen Seite der Leitung hört. Sie sprechen in einer serbisch-zigeunischen Mischung. Als ich ihm verrate, dass ich seine Sprache verstehe, will er die ganze Schicht nicht von meiner Seite weichen, obwohl er doch arg mitgenommen ist. Daraufhin hat er mir seine ganze Geschichte geschildert und ich konnte sie seinem Psychiater übermitteln und auf diese Weise ihre Kommunikation verbessern. Menschen, die in Behandlung sind, werden vom Sozialamt anhand der Gesetzesgrundlage geschützt, und können sich ohne Angst zu haben legal in Deutschland aufhalten, und zwar solange sie krank sind, bzw. auch länger, falls ihr Aufenthaltsstatus anders geregelt wird. Wir haben ihn sofort darüber informiert, was letztendlich Licht in den Tunnel, in dem er sich wälzte, gebracht hat. Das hat sein Vertrauen in mich, dass er quasi von Anfang an hatte, nur noch befestigt.
„Wohin soll ich zurückkehren? Ich kann nirgendwo hin. Auf den Friedhof vielleicht?“
„Wo sind denn die anderen?“
„Welche anderen? Ich habe niemanden, mein Freund, ich bin jede Nacht auf den Friedhof gegangen und habe dort in einer geöffneten Gruft, mit Holzbrettern bedeckt, geschlafen.“
„Wie bitte?”
„Ja, genau, das ist die letzten Jahre mein zu Hause. Gewöhnlich betrank ich mich, damit mir nicht kalt war, oder ich schaute lange in die Sterne über mir, wenn der Himmel klar war. Ich habe niemandem von meinem Unterschlupf erzählt. Warum auch, damit sie mich auslachen?“
„Komm erzähl mir jetzt keine Geschichten!“
„Ich lüge nicht, mein Freund, ich kann nicht mehr so weiter, deshalb bin ich auch hierher gekommen, aber leider…“
„War das dein erster Versuch?“
„Eigentlich schon, wobei ich manchmal schon arg zu Tabletten und Alkohol gegriffen habe, um so in eine Art Vergessenheit zu geraten, damit mir wärmer ist, damit ich mich besser fühle.“
„Und, wann folgt der nächste Versuch?“, schlägt es aus mir kalt und ironisch professionell heraus, wobei ich von innen voller Wut war, obwohl ich nicht genau sagen kann gegen wen oder was diese Wut gerichtet war.
Meine erste Assoziation war das Lied „Warnung“[1] von Antun Branko Šimić, wobei ich gar nicht sagen kann warum. Seine Verse „Mensch, pass auf, dass du nicht zu klein unter den Sternen schreitest/lasse das sanfte Licht der Sterne über dich ergehen/trauere nicht, wenn du dich mit deinem letzen Blicke von den Sternen verabschiedest/gebe dich vollends den Sternen hin.“
„Sich vollständig den Sternen hingeben!“, ergriff ich meinen eigenen Gedanken; dieser junge Mann, der aus einer leeren Gruft den Himmel beobachtet hat und „das sanfte Licht der Sterne“ über seine Seele und seinen Körper ergehen ließ, wird sich vollständig den Sternen hingeben.
Ich führe meine Geschichte spazieren. Nichts Weiteres.
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