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10. Verflechtung der realen und fiktiven Biografie auf der Bühne

II.

Bei der Pflege von alten, behinderten und kranken Menschen, ist es sehr hilfreich, wenn man etwas von ihrer Biografie weiß. Dadurch kann man in schwierigen Momenten besser auf die konkrete Person eingehen und sie ihrer Lebenserfahrung gemäß würdevoll und mit Respekt behandeln. Jede persönliche Information über die zu behandelnde Person hilft dem Pflegepersonal auf deren jeweilige Bedürfnisse und Angewohnheiten einzugehen, und auf diese Weise die tägliche Arbeit, diese intime Beziehung, leichter zu verrichten. Außerdem kann man leichter die übrig gebliebenen Funktionen der Person aktivieren, wenn man weiß, welche Fähigkeiten sie noch besitzt.

Wenn wir von der Biografie als methodischem Einsatz bei dieser Personengruppe sprechen, dann können wir diesen nach zwei Hauptmerkmalen unterteilen: Beim ersten liegt das Augenmerk auf dem Gespräch und beim zweiten auf der Aktivierung übrig gebliebener Tätigkeitsmöglichkeiten.

Wenn sich die Arbeit an der Biografie am Gespräch orientiert, dann kann dieses einzeln, in Gruppen und im Familienkreis realisiert werden. Die Themenwahl ist weit gefächert, so kann man z. B. über die frühe Jugend, oder die Kinder oder wichtige Ereignisse im Leben u. ä. reden. Falls dieser Erfahrungsaustausch in der Gruppe passiert, dann kann das sehr nützlich für die Mitwirkenden sein.

Oft kommt es vor, dass bei Erzählungen aus dem Gedächtnis auch etwas hinzugefügt wird, was nicht der Wahrheit entspricht, jedoch mindert das nicht wirklich die Glaubwürdigkeit und die Wahrhaftigkeit der biografischen Geschichte. Denn jede Distanzierung von den Tatsachen, jede Ergänzung und jede Verheimlichung, jede weitere Deutung und oft auch der Wunsch sich in einem anderen Licht zu zeigen, stellen gleichermaßen die Wahrheit eines Individuums dar. Es ist vergleichbar mit der Situation, wenn ein Autor eine Geschichte kreiert, gewissermaßen erfindet, und in ein Werk flüchtet, um von sich selbst zu fliehen, dieses aber nicht vermag, bleiben die verwendeten Sätze und die Welt des verwendeten Werks trotzdem bestehen und entsprechen weiterhin der Wahrheit.

Wenn sich die Arbeit an der Biografie, an der Aktivierung übrig gebliebener Tätigkeitsmöglichkeiten orientiert, dann werden verschiedene Formen verwendet, wie zum Beispiel, das Singen von Liedern, das Decken eines Tisches, so, wie die Person es immer gerne gemacht hatte, sich mit Farben und Formen ausdrücken, oder der Pflege der sozialen Kontaktmöglichkeiten, durch das Basteln von Geschenken für die Familie oder für Freunde.

Wie sieht der Tagesablauf in einem Heim für betagte und geschwächte Künstler aus?

Wie sollte man aus dieser Perspektive heraus auf den Glanz des vergangenen Beifalls schauen?

Hier geht es um das Seniorenheim „Casa Verdi“ in Mailand! Grazie Guiseppe!

Für die Nutzer des Seniorenheims ist das „Casa Verdi“ das größte Werk des großen Komponisten. Dieses Paradies für verarmte und betagte Musiker ist eine Stiftung des Maestro Guiseppe Verdi persönlich. Neben dem Seniorenheim hat er auch ein Museum und einen Konzertsaal für pensionierte Diven, Dirigenten, Tänzer und Agenten hinterlassen, gewissermaßen eine Bühne der Erinnerungen.

In Deutschland gibt es Seniorenheime für betagte Künstler, ausgelaugte Seefahrer, geschwächte Priester, übermüdete Homosexuelle… es gibt natürlich auch ganz gewöhnliche Seniorenheime, in denen die Programme auf die Bedürfnisse der Heimbewohner ausgerichtet werden. Da Deutschland ein Migrationsland ist, entstehen auch Heime, in denen das Personal mit den Bewohnern, neben Deutsch, auch in ihrer Muttersprache kommuniziert, und man darauf Wert legt, dass das Altern, die unternommenen Pflegemaßnahmen und das Sterben gemäß verschiedener religiöser Bräuche ermöglicht werden. Jegliche Explosivität und Differenzen in der Blüte des Lebens, die auf Verschiedenheiten basieren, finden am Lebensabend zur Ruhe, dann, wenn man nicht mehr ohne Versorgung und Pflege auskommt.

Eine Nutzerin des Seniorenheims feiert heute ihren 100. Geburtstag. Ihre Mitbewohner, die gerade etwas jünger sind als sie, singen ihr ein Geburtstagsständchen. Es sind alles Menschen mit jahrelanger Bühnenerfahrung und einem Lebenslauf voller Beifall.

Ist nicht etwa jeder Hunderte Geburtstag eine Feier des Unmöglichen im Möglichen, ein großartiges Erlebnis in einer zerbrechlichen Gestalt?

 

Johann Kresnik hat in seinem Stück „Villa Verdi“ ehemalige Stars auf die Bühne gebracht und eine saftige, authentische, und offenherzige Aufführung inszeniert. Es spielten: Hildegard Alex (Johanna Edel), Sarah Behrendt (Nora Melrose), Annekathrin Bürger (Ebba Kühn), Cornelia Kempers (Anni Schmidt), Jochen Kowalski (Max Wallstein), Roland Renner (Antonio Ristuccio), Ilse Ritter (Maria Janson), Andreas Seifert (Karl Grün), Jutta Vulpius (Katerina Skolonski), Harald Warmbrunn (Hans Borowski), Osvaldo Ventriglia (Tänzer), Yoshiko Waki (Tänzerin), Frank Maus (Musikdirektor Kurt Leider), Sandor Farkas (1. Geige), Karl-Heinz Brößling (2. Geige), Erhard Starke (Bratsche), Daniel Roither (Cello), Studenten der Staatlichen Ballettschule Berlin und 30 Bewohner der Villa Verdi.

Das Publikum konfrontiert er mit dem Altern und dem verlorenen Glanz der Stars, die die Nachkriegszeit des letzten Jahrhunderts geprägt haben. Reale Biografien, die Biografie der Rolle-Person und die Biografie des Rollenkreators hat er in einer fiktiven Geschichte verknüpft; ein Streik der Heimbewohner zur Rettung des Altenheims, das wegen Kürzungsmaßnahmen geschlossen werden soll. Hier geht es um die Frage bzw. über den Sinn der EU Tendenzen zur übertriebenen Sparpolitik, und dass dadurch die „Villa Verdi“ geschlossen werden muss. Wo werden danach ihre Bewohner ihr leibliches Ende erleben?

Die Bewohner entschieden sich wieder auf die Bühne zu treten und ihr Bestes von sich zu geben; zu singen, zu spielen, zu tanzen, um am Ende ein Transparent hochzuhalten mit der Aufschrift: „Wir geben die Villa Verdi nicht her!“.

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