Riken-no-ken, Die Sicht der abgeschiedenen Sicht – Triptychon –
I
„Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und weiß nicht, wo ich bin. Mir ist, als sei ich ein körperloser, frei im Raum schwebender Mensch. Instinktiv überkommt mich die Furcht, dass es der falsche Ort sei, an dem ich mich befinde, und dass hier Gefahr drohen könne. In diesem beunruhigenden Gefühl versuche ich mit Macht das Bewusstsein wiederzuerlangen. Allmählich kehrt es zurück, nehme ich erste Laute wahr und sehe ringsum die ersten Dinge. Die Erinnerung stellt sich ein, und langsam wird mir klar, wo ich hier bin und aus welchem Grund.“ („Zwischen den Welten“, S.9, Deutsch von Buki Kim, Originaltitel: „Hyoryu-Hyora“ von Yoshi Oida)
Je intensiver ich in diese Stadt und diese Gesellschaft eindringe, desto mehr überkommt mich, das immer gewaltiger werdende Gefühl, hier fehl am Platz zu sein. Ich fühle mich als Fremder fremd – obwohl ich schon ein Vierteljahrhundert hier lebe. Wie kann ich das mir und den anderen erklären? Warum bin ich nicht woanders hingegangen?
Vielleicht war meine Zerrissenheit an dem Ort, an dem ich lebe, all diese Zeit ein ausreichender Grund für das Theater, mit dem ich mich beschäftige? Meine Aufführungen sind die Austragung „innerer Zwistigkeiten“ und die Erkennung ähnlicher anderer im gemeinsamen Raum. Je mehr ich sie in kleinere Teile „zerbröckelt“ habe, umso mehr kam das Bedürfnis nach einem Ganzen, einer Einheit hervor, aber nicht der Einheit eines Textes, sondern der Einheit eines Raumes, in den wir, der(die) Autor(en), die Mitarbeiter, der Schauspieler und ich unsere Erfahrungen zusammenlegen.
Auf diesem Weg zeigte sich der Rhythmus der Begegnungen, der Proben und letztendlich der Aufführung, als besonders wichtig. Ich suche, einerseits den Rhythmus der Aufführung als mögliches Leben, das nur in einem ganz präzisen mathematischen Korsett existieren kann, wo Abweichungen, sogar in Sekunden gemessen, den „Tod“ dieses möglichen Lebens bedeuten. Ich spüre diesen Rhythmus intuitiv, danach rationalisiere und präzisiere ich, und dann überprüfe ich ihn, wenn die Aufführung vor Zuschauern vorgeführt wird. Das Einüben bis zum geeignetsten Rhythmus ist für das Leben auf der Bühne und die höchste Wahrnehmung des realen Zuschauers ein Prozess, den wir förmlich gesehen, bei mehreren, sogenannten Vorschauen, realisieren. Wenn wir die magische Dauer gefunden haben, weiß ich, auch ohne der Aufführung zu folgen, mit einer Stoppuhr in der Garderobe sitzend und ihre Dauer messend, wie die Aufführung war. Abweichungen vom vereinbarten Rhythmus, bzw. der Dauer, enthüllen mir, wie gespielt wurde, und ob die Aufführung bei den Zuschauern angekommen ist.
Seit Ende der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts habe ich „Work in Progress“ – Uraufführungen aneinandergereiht, die sich scheinbar alle nur mit einem Thema beschäftigten: Der Identität.
Die Identität in der Eigenerfahrung und die Identität in der Erfahrung von anderen, die an Ereignisse gekoppelt sind, an denen ich teilgenommen habe; Aufzeichnungen, die durch Koordinaten einer bestimmten Aufführung zeitlich bestimmt sind.
Die Entstehung einer neuen Persönlichkeit mithilfe der Mischung mehrerer Elemente verschiedener Individualitäten; das Leben als Rückwirkung auf eine Situation, ein Ereignis, den Dualismus des Lebens, das Bewusstsein, das Schicksal und die Bewältigung von Zwistigkeiten. Ich möchte immer wieder unsere Zerbröckelung, unsere Diskontinuität in verschiedenen Kombinationen und Möglichkeiten ins Bewusstsein rufen, möglicherweise könnte man das, was ich in Szene setze, am ehesten so benennen.
Ich habe das Schreiben unterbrochen und bin kurz Mal das Auto umparken gegangen, um so einem Strafzettel für unerlaubtes Parken zu entgehen; da sie sich an mich hängen, wie die Kletten. Vor knapp zehn Minuten habe ich vor meinem Wohnhaus geparkt und schon kann ich von meinem Fenster aus sehen, wie das Ordnungsamt, das Amt, das zuständig sein soll für die Ordnung – was ich mit spöttischem Unterton hervorheben möchte – ein Knöllchen schreibt. Die Tatsache, dass man im Umkreis von etwa einem halben Kilometer keinen Parkplatz finden kann, rechtfertigt natürlich nicht meine Handlung. Dies ist nur ein Beispiel, wie man hierzulande Verbote konstruiert, die, falls man sich gegen dieses Verbot lehnt, dem großen Konstrukteur Einnahmen versichern.
Diese Sache mit dem Parkplatz ist nur ein Beispiel für diese Einsicht. Unsere kleine Straße ist auf der einen Seite mit Parkschildern versehen, mit der Aufschrift vermietet und einer Nummer. Die meisten dieser Parklücken stehen, seitdem diese Schilder aufgestellt wurden, leer, folglich unvermietet, da es sich um Wuchermieten handelt, besteht kein Interesse – falls man dort unbefugt parkt, wird man abgeschleppt, falls man auf der Straße vor dem Haus parkt, bekommt man einen Strafzettel wegen unbefugten Parkens.
Der allgemeine Gemütszustand besteht aus einer Reihe von Details, kleinen, wichtigen Ereignissen. Ich reagiere empfindlich auf die immer wieder neu auftretenden Begrenzungen der Bewegungsfreiheit, die sichtbaren, nach denen man handelt und die, die man verspürt.
Ich habe am 13. August 2013 geträumt, feuchte Nächte in einen bewölkten Tagmeinst du feuchte Nächte in den Tag hinein, , in einem ozonparfümierten Berlin, ein Segelschiff voller Menschen.
Ich bin auch unter ihnen.
In der Zwischenzeit habe ich das Auto auf einem anderen Parkplatz unbefugt geparkt.
Im Grunde genommen, weiß ich gar nicht, wie ich dort hingekommen bin, wobei ich auf dem Deck von der Menschenmenge regelrecht zerdrückt wurde. Ich kann mich an ein ähnliches Gefühl erinnern, aus der Moskauer Metro, als mich die Menschenmenge gen Ausgang getragen hat, ohne den Boden mit den Füßen zu berühren – und ich, verschlinge die Angst und versuche, mich auf meine Hände zu konzentrieren, die ich vor der Brust gefaltet habe, damit sie mir nicht die Lunge zerquetschen und ich den Geist aufgebe, damit mir die Augen nicht herausfallen und ich erblinde. Wir gehen alle unter und viele tauchen nicht wieder auf, ich bin aber wieder da, mit vor mir gefalteten Händen und dem Blick gen Himmel scheint es, als würde es strahlen, ich kann nichts sehen. Das Lächeln meiner Tochter, wunderschöne weiße Zähne, aber ich kann ihre Augen nicht sehen. Beschriebene Seiten schwimmen auf der Oberfläche, ich möchte sie ergreifen, es gelingt mir nicht.
Der Wind schäumt die Meereswirbel auf – ja, da bin ich mir sicher, ich bin im Meer und das Salz reinigt mich, denn da, ich tauche ein, zwar gegen meinen Willen, in die Tiefe, in die blaugrüne Unendlichkeit. Der Meeresgrund ist weiß. Was ist es, das mich in die Bucht mit orangefarbenem Gestein geworfen hat. Eine Frau mit nackten, kleinen Brüsten sitzt mit den Beinen im Meer und schält ein Holzstück – wozu braucht sie das? Schält sie es? Meine volle Blase weckt mich auf, das Holzstück ist ein Spieß, denke ich mir beim Urinieren der gelben dicken Flüssigkeit.
„Wenn Theaterkollegen aus Japan zu Besuch nach Paris kommen, sagen sie mir oft bewundernd: „Großartig, wie du das schaffst, in einem Land mit anderer Sprache und ganz anderen Gewohnheiten Theaterarbeit zusammen mit Ausländern zu machen. Du hast wirklich Mut.“ – „Im Gegenteil“, sage ich dann, „den Mut habt ihr. Im eigenen Land zu arbeiten heißt ja, Rücksicht auf die gesellschaftliche Konvention zu nehmen, auf Klatsch und üble Nachrede gefasst zu sein, gerade unter Theaterleuten. Dazu bin ich nicht mutig genug. Ich bin aus Japan geflüchtet, aus Feigheit, und arbeite jetzt als Fremder in der Fremde. Für ein Leben in der Gesellschaft bin ich gewissermaßen untauglich.“ („Zwischen den Welten“, Deutsch von Buki Kim, Originaltitel: „Hyoryu-Hyora“ von Yoshi Oida)
An einen Ort ziehen ist schnell getan, sich irgendwo niederlassen ist eine langwierige Prozedur, hier irgendwo zum „Einheimischen“ werden, ist fast ausgeschlossen.
Ich weiß nicht, ob mich dieses derart starke Gefühl, dass es mir unmöglich erscheint, mich in dieser Mitte zu akklimatisieren, auch anderswo verfolgen würde. Der Schritt der Abreise, wahllos, woanders hin, hat mich mit meiner eigenen Kraft, meiner Beweglichkeit, Flexibilität und meiner Eigenschaft einen Kreis oder Lebenskreise im Unbekannten zu formen, konfrontiert. Ich habe meine eigenen Instinkte und Intuitionen zur Erhaltung, zum Überleben und zur Gestaltung eines eigenen Labyrinths, zur Besinnung gerufen.
Wenn man mit einem Satz in etwas Neuem landet, muss man sich schnell zurechtfinden können, wobei die Nerven bis zum Zerreißen gespannt sind. Die Mechanismen der eigenen Abwehr und den Platz für die Verarbeitung des Erlebten im ständigen Wechsel muß man durch die Zerlegung in Einzelstücke schaffen. Bei der Bewegung in neuen Situationen, Aktionen und Reaktionen gibt es fast keinen Allgemeinplatz und allgemein Bekanntes – die Besonderheit der Persönlichkeit wird geschärft.
Ich werde mit dem Teil in meinem Inneren konfrontiert, der zu Hause schläft, wir wissen tatsächlich gar nicht, was in uns steckt. Das Unbekannte füttert Ängste. Es entdeckt meine eigene Risikofreudigkeit. Ich träume anders. Es ist die neue Erkenntnis, nach vielen Jahren der Abwesenheit, dass ich dort, von wo ich gekommen bin, nicht mehr hingehöre.
Wahrhaftig flattern die Nerven anders: Zu Hause kommt mir vieles fremd vor, folglich bin ich selbst dort ein Fremder; hier gibt es viel Unbekanntes, und es reizt mich, als würde es vor mir fliehen, so zucke ich zusammen und jage es, auf andere Art sich selbst konditionierend.
Dabei hilft mir eine besonders wichtige gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit – das Theater.
Das Theater habe ich niemals als eine besonders einflussreiche Kunst in Hinblick auf die soziale Realität gesehen – obwohl dieses im sozialistischen Jugoslawien so gelehrt wurde. Es wurde ebenfalls versucht die Theaterkunst in diesem Licht zu zeigen (Aufbau für die nicht Aufgebauten!). Ich hatte keine großen Probleme mit der Uneinheitlichkeit und der Bedeutungslosigkeit, die sogar hier, im kapitalistischen Wertungssystem gelten.
Das Theater dient vorrangig der Möglichkeit sich selbst vor anderen zu bewähren, der Möglichkeit der Reflexion und der Selbstbesinnung, ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten des Theaterhandwerks nutzend.
Das Theater ist natürlich auch ein Dialog mit den Zuschauern, vor die man mit seiner Intimität tritt, mit dem Ziel eine universelle Intimität heraufzubeschwören.
Die gesellschaftliche Position des Theaters ist auch eine kulturpolitische Frage, wo immer sich die Politik einmischt, kommt es auch zu einer gewissen Manipulation, dies manifestiert sich beim Theater schon bei der Auswahl der Theaterleitung, des Repertoires, bei der Auswahl der Mitarbeiter u.ä.
In Berlin kann man manchmal das gleiche Repertoire in mehreren Theaterhäusern finden, dadurch wird die Wahlmöglichkeit ungemein begrenzt, sowie die Möglichkeit der Schaffung einer eigenen Bewertung und Unterscheidung des Wichtigen vom Unwichtigen.
Die Deutschen sind Meister der Präsentation, Verpackungskünstler, wobei der Inhalt meistens nicht das hält, was die Verpackung verspricht.
Die deutsche Theaterszene ist voll von minderbemittelten Talenten, die jedoch „sehr wichtig“ sind, da sie professionell-hochwertig präsentiert werden.
Die Besonderheit des Theaterangebots dieser Stadt sind die Gastspiele aus der ganzen Welt und eine große Anzahl an Aufführungen, nahezu eine Überschwemmung an Projekten, die außerhalb der großen Theaterhäuser, unter den verschiedensten Produktions(un)möglichkeiten, entstanden sind.
Nächster Abschnitt kommt in nächsten Blog.
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