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3. WissensDurst S.29-32

„Das Leben ist nicht ein Problem das gelöst werden muss, sondern ein Geheimnis das gelebt werden will, eine Quelle, die fließen will.“[1]

Hier die Beschreibung einer Übung, die ich regelmäßig mit Schauspielern bei der Arbeit an einem Stück durchführe:

Mit geschlossenen Augen, in der Gruppe stehend, verfolgt jeder die eigene Atmung.

Nach drei Minuten sage ich leise zu ihnen:

„Denkt über die Figur nach, an der ihr gerade arbeitet. Bleibt detailgetreu an diesem Bild hängen. Merkt euch das zuerst erschienene Bild. Verharrt in der Figur. Wie alt seid ihr? Wo befindet ihr euch? Beobachtet, fühlt, riecht den Raum und die Zeit und die Situation, in der ihr euch befindet. Wir gehen jetzt zurück „vorwärts“ zur Geburt. Ihr seid jetzt zwei Jahre jünger, als in dem Moment, der euch als erster erschienen ist … ihr seid noch zwei Jahre jünger … ein Jahr … ein halbes Jahr … geht weiter … ihr seid noch nicht zur Welt gekommen … geht weiter: Raum, Farben, Gerüche, Zustand, Zeit und weiter – vorwärts – rückwärts bis zur Empfängnis. Ihr wurdet erzeugt!

Geht jetzt andersherum, von der Empfängnis – vorwärts – rückwärts: Neun Monate sind vor euch … acht … sieben … der dritte Schwangerschaftsmonat, noch sieben Monate … wir gehen weiter … Welche Veränderungen bemerkt ihr (prüft eure Stellung), wie fühlt ihr euch, was ist mit den Gerüchen? … usw. bis zum neunten Monat – dem ersten Monat vor der Geburt, und dann vom dreißigsten Tag … 29 … 28 … 27 … weiter, noch 3 Tage … noch 70 Stunden … noch 30 Minuten … 25 … 20 … 10 … bis 60 Sekunden … 59, 58, 57, 56, 55, 54, 53, 52, 51 … 3 … 2 … 1 … ihr seid geboren!

Die Figur, die ihr kreiert, wurde gerade in eurer Gegenwart und Dank eurem Handeln geboren.“

 

Mit verschiedenen Arten der Abzählung, im Verlauf der Übungen, verstärke ich die Konzentration des Schauspielers während des Geburtsvorgangs.

Ich arbeite in einem verdunkelten Raum, jeder ist auf seiner Matte, wo er eine Stellung einnimmt, abhängig vom Impuls, den er bei dieser geführten Meditation empfängt. Die Darsteller der eigenen Geburt sind beinahe immer in einer Fötusstellung, im Mutterleib, sie nisten sich ein, ändern ihre Stellung, bis sie zu Kräften kommen und geboren werden.

Manchmal jedoch fordere ich sie auf, die Übung im Stehen durchzuführen.

Bei der Einleitung der Geburt überspringe ich keinen Monat: im achten – zweiten Monat, keine Woche, im neunten – ersten Monat keinen Tag; am Ende keine Stunde und vor der eigentlichen Geburt weder eine Minute noch die letzten 60 Sekunden.

Einen Anreiz zur intuitiven Fertigstellung der Aufgabe erreiche ich auch damit, dass ich die Teilnehmer mit dem Namen der Figur anrede oder sie sieze/duze, wobei nicht klar wird, ob ich die Figur oder den Schauspieler selbst anrede. Von großer Bedeutung ist ebenfalls die Tatsache, dass ich nicht weiß wie alt die Figur beim ersten Erscheinungsbild, das dem Schauspieler vorschwebte, ist. Daher kann es passieren, dass ich ihn beim Zurückzählen bis zur Geburt und dem Fötusstadium irritiere, da er vielleicht schon nach einigen Angaben bei der Geburt angelangt ist, oder ganz weit weg ist von seiner Geburt. Wie sich der Schauspieler dabei zurechtfindet, das hängt von ihm selbst ab. Er darf mir dabei keine Fragen stellen, die Proben nicht stören und uns im Nachhinein nicht darüber berichten. Dieser verwirrende Lebensfluss (trachtet??)sich nach guten Schwimmern, einer instinktiven Reaktion, intuitivem Eintauchen in Raum und Zeit, der Verkostung aller Möglichkeiten und der Lese von Plankton für die Fütterung der Rolle….

Nach drei Minuten Schweigen, am Ende der Proben, fordere ich sie auf sich auf den Rücken zu legen, mehrmals tief durch die Nase einzuatmen und durch den Mund auszuatmen, um dann langsam die Augen zu öffnen.

Wir reden nicht über das Erlebte; jeder notiert sich seine Gedanken, Erlebnisse in sein Heftchen. Die Probe ist beendet.

Die Dauer der Probe wird durch die Dauer dieser Übung festgelegt.

Das stellt eine Form dar, wie man dem Schauspieler den Boden unter den Füßen wegziehen, ihn auf glitschiges, unbekanntes Terrain führen kann. Niemand weiß, wie die Figur geboren wurde, noch weiß der Schauspieler, wie er zur Welt kam. Wir wissen lediglich, dass dieser Augenblick passiert ist, aber wie er abgelaufen ist, das ist unserem Gedächtnis entschwunden. Wir befassen uns mit dem Moment, in dem der Schauspieler und die Figur in Unwissenheit miteinander verschmelzen.

Entschlossen und neugierig machen wir Halt beim Tappen, bis der Schauspieler und die Rolle, das Rollendouble – der Schauspieler und das Schauspielerdouble – die Rolle geboren werden. Das ist dieser ungreifbare, schwerbeschreibliche Dualismus, der das Bühnengeschehen bestimmt und ein mögliches Leben kreiert. Ich bin Zeuge und Anreiz für diesen Dualismus, das Publikum, wenn man will.

Oder anders ausgedrückt, ein Dilettant mit Vorbedacht und der Bereitschaft etwas zu erleben, was vielleicht gar nicht passiert. Wir sind also alle aufgeregt unsicher auf unsicherem, unterteiltem und doch vereintem Terrain, der Zuschauer – der Schauspieler – die Figur – der Zuschauer – der Schauspieler. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Fürsorge für die Unsicherheit ein wichtiger Baustein bei der Findung des Authentischen auf der Bühne ist.

Die biografische Aneinanderreihung der Rolle des Schauspielers und der Schauspielerrolle, die biografische Aneinanderreihung jedes Menschen beginnt mit der Geburt.

Das Heranwachsen und die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, ist ein paradoxer Prozess. Jeder, der über einen Zeitablauf nachdenkt, indem er ein Ereignis an das andere reiht, kann nur schwer die Komplexität der Existenz begreifen. Mann kann die Entwicklung nicht von der Außenwelt abschotten. Wir alle haben einen Vater und eine Mutter, die uns weiterhin beeinflussen; die Figur ebenso, obwohl hier klar wird, dass die Mutter- und Vaterfigur in einer Figur vereint sind. Ich habe mir oft gedacht, dass man die Fruchtbarkeit des Schauspielers mit der Fruchtbarkeit des Seeigels vergleichen könnte.

Die Geschlechtsdrüsen der Seeigel befinden sich im Innenraum in den Zwischenstrahlen auf der Oberseite. Die Ei- und Samenzellen werden direkt ins Wasser abgegeben, wo sie äußerlich befruchtet werden.

Die Gegensätze, die aus dem Inneren der menschlichen Seele entstehen, bilden eine Eigendynamik. Dadurch entstehen Aktionen, die durch bestimmte äußerliche Einflüsse beeinträchtigt wurden, und wir diese Aktionen an den äußerlichen Umständen messen, obwohl sie fast nichts mit ihnen zu tun haben. Die Gestaltung einer Rolle ist voll von Gegensätzen, sie wird auf der Stachelspitze einer möglichen Biografie, mit sehr vielen Überbrückungen, geformt. (Schönes Bild!!)

 

Es gibt Biografien über fiktive Leben wahrer Personen, und es gibt Biografien über wahre Leben fiktiver Personen.

Hat jemand über ein fiktives Leben einer fiktiven Person geschrieben? Wurde von einem wahren Leben einer wahren Person geschrieben?

Wenn wir versuchen einer fiktiven Gestalt einen fiktiven Lebenslauf zu schreiben, dann überrascht es uns, dass auch ein wahrer Teil unserer selbst in diesen Lebenslauf fließt. Auf diese Weise wird die fiktive Gestalt zur wahren Person, wie ein Doppelgänger seines Autors.

Was ist das wahre Leben einer wahren Person? Eine Besinnung auf die Details, an die wir uns erinnern?

Was ist mit den Dingen, die wir vergessen haben?

Wir leben in der ewigen Überbrückung leerer Erinnerungen und der Unzulänglichkeit unseres Sehvermögens, in malerischen Erfindungen über das eigene Dasein. Wir basteln uns unser Leben zusammen und glauben an unsere eigenen Ammenmärchen. Wie wahr ist das, was wir glauben zu sehen?

Durstig Wissend hat diese Überbrückung hinterfragt, das angeblich Wahre, was das Gelebte bestätigt und erklärt.

Die Biografie ist gleichzeitig das eigentliche Leben und die Methode, mit der wir die Gegenwart als ein Kettenglied einsetzen, wobei wir, in das Unbekannte strebend und sich davor sträubend, die einzelnen Glieder fühlen und an sie erinnert werden.

Bei der Gestaltung einer Rolle bietet der Schauspieler zumindest eine biografische Skizze der Figur, die er spielt. Ausgesprochene Sätze. Ausgesprochenes Schweigen. Nervenkribbeln.

Ich kann mich daran erinnern, als ein Satz aus emotionaler Spannung in einer unerwarteten Situation entstand, den ich dann später in einer Aufführung benutzt habe. Eines Tages hat mich einer der Obdachlosen-Schauspieler im Proberaum im vierten Stock erwartet. Er stand im Fenster und versuchte das Gleichgewicht zu erhalten. Ich erstarrte vor Angst!

Im Raum saß ein anderer mit Shampoo im Haar, das ihm seine Begleiterin von der Straße mit Wasser aus einem Behälter ausspülte. Wie sollte man da reagieren?

„Ingo mach die Fenster zu, es ist kalt“, stieß ich zu dem am Fenster heraus. Eine Sekunde Stille kam mir wie eine Ewigkeit vor, und dann, Ingo sprang vom Fenster in den Raum und sagte wütend: „Ach Mann, dich bringt aber auch Nichts aus der Fassung!“

Und so fuhren wir mit weiteren banalen Übungen fort, während sich in mir der Monolog der Furcht auftaute, den ich tief in mir festgefroren hatte, um entspannt sagen zu können: „Mach die Fenster zu, es ist kalt!“

Ich habe diesen Monolog niemals niedergeschrieben, und habe nur: „Mach die Fenster zu, es ist kalt!“, in die Aufführung mit einbezogen.

Oft denke ich: Wie viele Stunden der Angst trage ich in mir, während ich an einer Vorstellung mit Menschen arbeite? Sind denn diese Eisberge, diese Gletscher der Angst wahrhaftig die Partitur der Vorstellung?

Wenn ich über W.D. schreibe, dann schaffen das fiktive Leben einer wahren Person und das wahre Leben einer fiktiven Person Verwirrung in mir.

WissensDurst ist ein Mann: seinem Geschlecht, seinem Instinkt, seinen Gewohnheiten nach, vor allem, jedoch seiner Art mit Frauen und der Natur zu kommunizieren. Er pinkelt auf der Straße, wenn er muss, ohne Vorbehalt; er legt gerne Frauen und Fräuleins flach, bis zum orgastischen Vergnügen. Wenn ihm etwas nicht gelingt, dann ist ihm das nicht egal, deshalb verbeißt er sich in etwas, bis er es durchgebissen hat. Er lebt nach dem Prinzip: Ordnung braucht nur der Dumme, das Genie beherrscht das Chaos! Er ist behaart, und natürlich schnarcht er, damit man ihn auch im Schlaf wahrnehmen kann. Er reagiert, obwohl er nicht gerufen wurde, und das ist wohl die typischste Charaktereigenschaft eines Mannes. WissensDurst ist also auf jeden Fall ein Mann.

Er entstand aus einem Gedanken, einem Geistesblitz, und zwar in dem Moment, als ich eine Wette mit einem anderen Obdachlosen-Schauspieler annahm, der gerade dabei war, nach einer unter einer Parkbank auf Kartons verbrachten Nacht bei -17 °C, aufzutauen. Er forderte mich heraus, ebenfalls eine Nacht im Freien zu verbringen. Just als ich diese Selbstmordaktion verweigerte, gebar ich WissensDurst, der diese Herausforderung nicht ablehnen könnte.

„Wenn Manfred das überlebt hat, obwohl er nächtelang im Freien schläft, dann kann ich das auch“, sagte WissensDurst und rollte gegen zwei Uhr nachts mit der S-Bahn bis zur letzten Haltestelle, mit einem Rucksack auf den Schultern, voll mit alten Zeitungen und einem Schlafsack, was natürlich ein großer Luxus war. Manfred führte ihn über gefrorenen Schnee zu einem Gebüsch, aus dem er Kartons hervorholte, und brachte sie bis zu ihrem Schlafrevier – einer Parkbank vor einer großen Eiche. Sie verteilten die Kartons auf dem Boden, fertigten eine Decke aus Zeitungspapier und den Schlafsack trennten sie in zwei Teile, damit jeder einen hatte, teilten sich ein Billigbier mit Wodka und legten sich hin. Ich habe versucht zu erfahren, wovon er geträumt hat, aber WissensDurst konnte mir nur von der Übelkeit, von steifen Fingern und vom Taumeln bis zur S-Bahn-Station, nachdem er nicht einmal zwei Stunden unter der Bank verbracht hatte, erzählen.

WissensDurst ermöglichte mir die Tür zum Untergrund zu öffnen, dem Reich der Bitterkeit, des Alkohols, der Armut und dem Unvermögen davon wegzukommen.

[1] Zitat von Rainer Maria Rilke

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