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3. WissensDurst S. 47-51

Kann man die Gefahr riechen? Wie kann man ihr entgehen? Sollte man sich in sie stürzen oder fliehen? Darüber haben wir stundenlang gesprochen.

Als Stipendiat seines Landes kam S.T. während seiner Studienzeit in Deutschland in den Sommerferien regelmäßig seine Eltern besuchen… bis auf einen Sommer, als man ihm meldete, er solle nicht kommen, da Unruhen im Land stattfinden. Er ist nicht ins Flugzeug gestiegen und überlebte. Einundzwanzig Personen seines engeren und weiteren Familienkreises wurden in der Revolution ermordet.

Bei der Flucht spielt die Musik ein Gewirr aus menschlichen Stimmen und Schritten, lehrte mich R.T., als wir an die Kolonnen von Flüchtlingen dachten, die mit bepackten Wagen den Bewegungen der Kolonne folgten und ins Unbekannte aufbrachen. Sogar, wenn sie irgendwo ankamen, gönnten sie sich keine Verschnaufpause, obwohl sie wussten, dass sie Glück hatten und überlebt haben.

„Ich muss die dunkle Seite meiner Vorfahren und ihre Flucht von hier in meinen Geburtsort untersuchen“, ist der Programmton von M.K., als er nach seiner Familiengeschichte in Deutschland suchte. Er verließ sich auf das Didgeridoo, laut der Legende ist es die Vibration der mystischen Seele einer Schlange, Symbol der Weisheit, eine onomatopoetische Nachahmung der Laute der Aborigine Ureinwohner Australiens. Das Instrument, das er in dem Land, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist, gelernt hat zu spielen.

Der Klang des Raumes ist wichtig. Wir haben ihm große Beachtung geschenkt. Dem Klang und dem Raum.

„In Altersheimen sitzen die Menschen meist still beisammen“ – sagte WissensDurst zu mir. „Du müsstest diese Stille hören, dieses Echo des Brunnens der Einsamkeit.“

Überall wo er seine Nase hineinsteckte, während er als Alten- und Krankenpfleger arbeitete, wurde er mit dieser Stille konfrontiert.

Menschen verstecken ihre Emotionen hinter einem Lächeln und Stille bewahrend, dachte ich mir.

WissensDurst pflichtete mir bei und ergänzte noch: „Still sein und vergessen! Kann man das eigene Leben vergessen?“

Sich verstecken, die erste Gelegenheit abwarten und fliehen, das ist die Erfahrung eines jeden Flüchtlings.

Allerdings hielt Berlin nach der Wiedervereinigung viele Verstecke, in die man sich flüchten konnte, parat. Ich entschied mich für die Ruinen entlang der Spree. Ein tolerierter Underground Jugendtreffpunkt in der DDR, der neben Musik und Drogen, dafür dienen sollte, den Aufstand auszuleben; der sog. Deli Club. Von dieser Stelle aus ist von einem Floß, das aus Obstkästen gemacht war, ein Schiff voller Flüchtlinge, murmelnd und singend, nach Amerika aufgebrochen, darunter auch Thomas Mann – „Fliehen mit Don Quijote“.

Das Cello fiept im Raum, wo sich die Politik mit Menschen befasste, ihre Schicksale bestimmte, im ehemaligen Parlament, im Sitzungsraum mit stechend roten Plüschstühlen, in der ehemaligen DDR. Die Sicht vom Balkon des Gebäudes reicht bis zum gesprengten Stadtschloss, das erneut, jahrelang schon, wiederaufgebaut wird.

 

„Das ist der Balkon, von dem Karl Liebknecht 1918 die Freie Sozialistische Republik Deutschland ausrief. Von hier aus reicht der Blick auf die Viertel des ‘historischen Zentrums’ Berlins. Ganz in der Nähe hat auch Ludwig Tieck – Spiritus Rector des ‘Mythos der Erinnerung’ seine letzten Jahre verbracht. Er diente dem König als intellektueller Narr, und zwar dem König, der auch ausgediente Romantiker, wie Schelling, nach Berlin brachte, um so Hegels „Land der Drachen“ etwas restaurierten Humor entgegenzusetzen – was ihnen bekannterweise nicht gelungen ist. Da es den Einfluss des Hegelianismus auf die politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts bekräftigt, sowohl nach rechts (den Faschismus), als auch nach links (den Kommunismus)…“[1], schreibt Harald Harzheim, als Dramaturg im Programmheft zum Stück „Don Quijotes Doppelgänger“.

 

Der runde, walzförmige und 78 Meter hohe Gasbehälter, der 1995 außer Betrieb genommen wurde, war die perfekte Kulisse für „Don Qujiotes letzte Reise“. Der blinde Jorge Luis Borges fand hier seine „kreisförmige Ruine“, seinen Todesengel und schloss die Augen; das Didgeridoo, die Stimme und das Cello verlaufen im metallischen Zylinder – dem Sarkophag. Große hölzerne Skulpturen – Figuren aus Treibholz stellten den Ort dar, indem alles zu Ende geht, das 20. Jahrhundert ist erloschen. Don Quijote und seine Doppelgänger gehörten nun der Geschichte an. Die Vergangenheit, die die Zukunft zerfrisst – ich musste an Bergson denken.

Wenn ich an dieses Stück und das Drumherum denke, überkommt mich das Schaudern, da unser Beleuchtungsmeister unter dem Reflektor, den er montierte, um Licht in die Dunkelheit zu bringen, ums Leben kommen konnte. Beim Eintreten in das Innere des Gasbehälters, um die Abendbeleuchtung für unsere Aufführung vorzubereiten, gerade Mal zwei Meter von ihm entfernt, aus großer Höhe… Entsetzen!

Zum Glück sind wir einer weiteren Beerdigung entkommen.

  • Der Komplex des Gasometers Schöneberg ist riesig und faszinierend, daher habe ich sehr lange über die Intervention in den Raum nachgedacht. Kühls große Skulpturen waren wie geschaffen für den Raum, finde ich; ein komplexes Konzept, mit vielen Assoziationen, die Textmontage, der imposante Ort und die Skulpturen. Wo sollte man am besten anfangen?, erinnert sich Julia Soubbotina.
  • Jeder Ausgangspunkt war mit einem Risiko verbunden, es ist auch für mich ein sehr heikles Projekt, mit vielen “Fettnäpfchen“ – ergänzte ich. – ich weiß, dass ich dich wegen deiner Kleiderkreationen, die förmlich im Raum lebten, engagiert habe.
  • Ich wollte hier, sozusagen, eine Begegnung des Realismus und der Fantasie bewirken. Ich entschied mich für gerade Schnitte, in Großform, in Übergröße. Das Geschlecht war nicht von Belang, die Form sollte zur Geltung kommen. Grundformen: Kreise, Dreiecke; Farben: blau, weiß und rot, auf diese Weise assoziierte man auch die Bewegungen der Schauspieler in diesen großformatigen Formen mit Skulpturen, die sich bewegten.
  • Du hast einigen ein Kreuz um den Hals gelegt und sie auf diese Weise besänftigt.
  • Ich habe nahezu alles in zwei Teilen und zwei Farben dargestellt, klare Formen. Für mich war das der Doppelgänger, viele Doppelgänger in einem geschlossenen Zylinder.
  • Doppelgänger?
  • Ich habe Tuniken gewählt, da man in sie sowohl Neugeborene als auch tote Menschen einwickelt.
  • Du hast aber nicht alle Schauspieler in eine Tunika gewandet.
  • Dem „gefallenen Engel“, wie wir die Figur nannten, habe ich riesige Papierflügel gegeben, um so seine Bewegungsfreiheit und das „Fliegen“ zu hemmen, um auf diese Weise den Kampf zwischen Natur und Mensch hervorzuheben.
  • Das Kostüm lebte und atmete mit den Witterungsverhältnissen bei den Aufführungen, mit dem Wind oder sogar dem Regen, bei einer Aufführung.
  • Dieses Kostüm haben wir bei den Einladungskarten für die Aufführung verwendet.
  • In diesem Zylinder habe ich viele meiner Assoziationen, Deutungen, Illusionen, Widerspiegelungen und Ereignisse des Jahrhunderts, in dem wir beide geboren sind, begraben.

Der schwarze Engel, ja, das ist wahrhaftig die Schlüsselrolle in diesem Stück. Blind, mit großen Papierflügeln, Papier, das in Flammen aufgeht, wie das brennende Buch über Don Quijote am Ende der Vorstellung; weder Engel noch Vogel, noch Fledermaus, noch Mensch, und doch all das in einem. Er bewegte sich mit verbundenen Augen im immensen Raum des Gasometers, als würde ihn das Gas, unsichtbar tragen und zersetzten; für die anderen Protagonisten „unsichtbar“, leitete er ihre Bewegungen: die letzte Reise oder der letzte Flug oder Auftrieb und Fall in den Abgrund.

Musik. Nichts als Musik. Finsternis.

 

Die Fortsetzung mit Julia begann im 21. Jahrhundert. Unsere Töchter Aglaja und Ornela kamen zur Welt. Das gemeinsame Leben beschert uns neue Herausforderungen.

In unserem Zimmer befindet sich an der Wand eine große Fotomontage dieser Trilogie. Sie wurde von Dong-Ha Choe, unserem koreanischen Fotografen aufgenommen und mit der Collagetechnik auf Seide erstellt.

Don Quijotes letzte Reise – in all seiner Mehrdeutigkeit.

 

  1. SICH SELBST SPIELEN

 

  1. Wann ist die richtige Zeit gekommen, um Fragen zu stellen?

 

  1. Was bringt es uns, nach verrichteter Arbeit Fragen zu stellen?

 

  1. Ist die Risikobereitschaft ein Beschluss oder eine Notwendigkeit?

 

  1. Ist unser Spiegelbild vielsagender, als das Fühlen unserer Selbst?

 

  1. Was bringt uns das Beobachten anderer Menschen?

 

  1. Gibt uns das eigene Kind die Chance unsere elterliche Neugier zu pflegen?

 

  1. Sind Noten in der Schule notwendig?

 

  1. Ist die Toleranz Mangelware?

 

  1. Welches sind relevante Kriterien für Gesundheit?

 

  1. Gibt es so etwas wie eine gesunde Gesellschaft?

 

  1. Warum werden Kriegserfolge als Notwendigkeit aufgezeigt, um eine neue Gesellschaftsordnung nach Wunsch zu erstellen?

 

  1. Wie lange überleben noch die nationalen Staaten?

 

  1. Warum ist die Intoleranz gegenüber dem Glauben heutzutage zu einem gefährlichen Ausmaß angestiegen?

 

  1. Welchen Stellenwert nimmt der Selbstmord in vielen modernen Gesellschaften ein?

 

  1. Welches sind meine Kriterien für ein wertvolles Leben?

 

  1. Woher kommt dieses Bedürfnis vieler Menschen, obskuren politischen Programmen und kriminellen Führern zu folgen?

 

  1. Ist der Idealismus dem Verlust der Realität gleichzustellen?

 

  1. Welche literarische Figur kann den Anfang des 21. Jahrhunderts symbolisieren?

 

  1. Hat das neue Millennium mit einer Feier des Primitiven begonnen – des neuen Primitivismus?

 

  1. Ist die Zeit gekommen für Mr. Bloom, den Titelhelden Joyces Roman „Ulysses“?

 

  1. Wird die Theaterarbeit immer mehr zu einer neuen Therapiemethode, die zur Prävention der psychischen Gesundheit des Menschen und der Gesellschaft eingesetzt wird?

[1] Harald Harzheim, als Dramaturg im Programmheft zum Stück „Don Quijotes Doppelgänger“

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