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3. WissensDurst S.33-37

Darüber habe ich eine Vorstellung gemacht. Über die Dynamik der Schalheit. Über den Geruch des Gestanks.

Über die Sauberkeit des Schmutzes. Über die Brutalität der Sexualität. Über den Mangel an Liebe.

Über verborgene Leidenschaft und wie sie zu entfachen ist. Über den Himmel als Dachgehäuse.

Über die Poesie des Brutalen.

Es ist das Spiel des Bewusstseins und des Unterbewusstseins, was man sieht und was man verdeckt, wovor man Angst hat und was man in die völlige Dunkelheit verdrängt. Es definiert uns als Einzelpersonen und als Gesellschaft.

Obdachlosen die Bühne bereitzustellen, war für mich ein Akt der Bestätigung und der Wertschätzung. Ich gehe nicht darauf ein, warum sie in diesen Teil der Gesellschaft abgerutscht sind, der Gesellschaft, die sie am liebsten verschwinden lassen würde, und sie auf diese Weise noch mehr in den Abgrund treibt. Meine Intention war es, ihnen die Bühne als Schauplatz anzubieten, wo sie das Recht hatten, zu Wort zu kommen, das Recht gleichgestellt zu sein mit allen anderen Lebensformen, bewusst ausgesucht oder durch Schicksalsschläge oder Zufälle bestimmt. Bei der Arbeit an diesem Projekt musste ich mich täglich neuen Herausforderungen stellen. Die Intensität der Wirkung und der Gegenwirkung dieser Leute, beinahe in jedem Augenblick, ist eine besondere Erfahrung – etwas Inspirierendes, auch für meine Theaterarbeit.

WissensDurst wurde in den Untergrund hineingelassen. Er lief durch diese Räume, verkehrte mit seinen Bewohnern; immer mit Pfefferspray ausgerüstet; er aß in Suppenküchen; duschte in öffentlichen Toiletten; er übernachtete sogar in Obdachlosenheimen, wenn er einen Platz erhaschen konnte …. und regelmäßig kehrte er, unausgeschlafen, mit seinen erlebten Geschichten, zu mir zurück. Er betrachtete mich kritisch bei den Proben, er war niemals vollends zufrieden mit meinen Einfällen und den Aufgaben, die ich den Schauspielern stellte, und hinterfragte meine Versuche.

Die Erstaunlichkeit der Wissbegierde. Der Lärm der Stille. Die Unsicherheit. Die Partitur der Angst.

Dem Chaos der Zeit müssen wir die Unruhe der Neurosen schenken

Auch nach Westberlin bin ich mit dem Poesiebuch von Ujević angereist, später habe ich dann noch seine Skulptur hinzugefügt, damit er mich bei meinen Streifzügen begleiten konnte.

Tins Werk ist gewissermaßen der Doppelgänger seines eigenen Lebens. Sein Werk gibt mir die Kraft und die Entschlossenheit aus dem Vollen zu schöpfen, das spiegelt sich auch bei meinen Handlungen wider.

Genau genommen geht es um einen tagebuchähnlichen Dialog, der vom ersten Jugendgedicht bis zur letzten Niederschrift andauert.

Ich befürchte, dass viele Menschen sehr viel Zeit damit verbracht und versucht haben das Erscheinungsbild Tin Ujevićs zu deuten, und es in einen literarischen oder gesellschaftlichen Kontext zu zwängen. Ich erlebe sein Werk als untrennbar von der Ganzheit seines Lebens und in dem Widerstand, den er der Umgebung geleistet hat, in der er aufgewachsen ist, gewissermaßen als Niederschriften im Riss der Zeit. Verlockend ist auch die Tatsache, dass ich keines seiner Gedichte oder Texte, als beendet und in sich abgeschlossen gelesen habe. So sehr er sich auch an die Form des Schreibens hält, vermittelt er das Gefühl der schwebenden Worte, die sich nur an die Form anlehnen, um auf diese Art die Wortordnung beizubehalten und einen Rhythmus zu kreieren. Der Leser wird beim Lesen in seinen Bann gezogen, von den eigenen Gedanken umschwärmt und gleichzeitig versucht er seine Gedanken in Schach zu halten.

Beim Lesen, wünschenswert wäre es beim laut Lesen, passiert es schon Mal, im Moment einer glücklichen Fügung, dass der Leser das Gedicht des Dichters und der Dichter den Gedanken des Lesers niederschreibt.

Der Dichter und der Leser sind vereint in der Quelle, aus der alles heraussprudelt, und wiederum alles ineinander überfließt.

Es ist eine besondere Dualität, das Vergnügen des Schließens eines Stromkreises der Neurosen zweier Einzelpersonen und für einen kurzen Moment lang die Ordnung des Chaos.

Am 11. November 1955, gegen 23 Uhr wurde die Blutung aus der Luftröhre gestoppt; etwas später, um ein Uhr und fünf Minuten, am 12. November 1955 starb Augustin Tin Ujević. Die Handlung der Vorstellung „Tin – im Paradies seiner Hölle“ habe ich in diese zwei Stunden vor seinem Tod gesetzt. Die Uraufführung fand im Theaterraum der Werkstatt der Kulturen in Berlin, am 10.11.1996, um 20 Uhr statt.

Im Bewusstsein des Sterbenden, sprunghaft und voller Kontraste, spielt und reflektiert sich sein Leben. Das Stück zeigt Momente des Lebens, der Atmosphäre, des Erlebten und der Menschen, so wie der Sterbende sie wahrgenommen hatte.

Der Text wurde aus einzelnen Fragmenten, aus Gedichten und Briefen des Dichters entnommen und zusammengestellt. Diese delikate Arbeit hat, nach Rücksprache mit mir, der Dramaturg Davor Korić übernommen, zu dem Zeitpunkt selbst Flüchtling aus der Kriegshölle Sarajevo.

Das Stück befasst sich mit dem persönlichen Erlebnis des Dichters, nicht mit Fakten oder historischen Umständen. Bei der Regieführung bemerkte ich von Zeit zu Zeit, dass mir Tins Material aus den Händen glitt, und mehr und mehr meine und Davors Erlebnisse in die Geschichte einflossen. Ich habe mich letztendlich auch nicht dagegen gewehrt, sondern habe sie auf verschiedene Arten in die Inszenierung eingehen lassen.

Es ist verblüffend, wie aktuell Tins Werk auch heute noch ist, obwohl es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebt und geschrieben wurde. Als würde es die Gegenwart beschreiben, vom Anfang des 21. Jahrhunderts. Wahrgenommene und besungene Details, widersprüchliche Gedanken, durchleuchtetes Leid, Beschreibungen von Gesellschaftskrisen und Antworten der Natur, Metaphern und Brücken, die den Menschen und die Natur – die Natur des Menschen und den Menschen in der Natur verbinden. Heute noch sind sie überall um uns herum verstreut. Der Dichter hilft uns sogar, sie zu erkennen und aufzusammeln.

Den sterbenden Tin spielte Nenad Inđić, ein fantastischer Schauspieler aus Zenica. Er kam nach Berlin mithilfe des Roten Kreuzes, das ihn aus einem Gefangenenlager in Bosnien und Herzegowina gerettet hat. Tin in seinen besten Jahren spielte Andreas Rüdiger, ein Schauspiel Star aus der ehemaligen DDR. Als jungen Mann spielte ihn Axel Bloedhorn, mein Schauspielstudent, und als kleinen Jungen spielten ihn zwei Kinder unserer Emigranten, Marjan Primorac und Tihomir Dorotić.

Vier Tins in einer Aufführung, dann noch der Vater, die Mutter, Ärzte, eine Krankenschwester, ein Journalist, Freunde, Polizisten, Vögel, Emigranten, Alkoholiker, Prostituierte, Gäste des Cafés Rotonde in Paris, Gäste verschiedener Gaststätten in Belgrad, Sarajevo, das Publikum…. Das Ensemble zählte 15 Schauspieler und 10 Mitarbeiter bei verschiedenen Einsätzen. Srećko Lipovčan hat im Erasmus Verlag Zagreb ein zweisprachiges Buch veröffentlicht, den Text des Stücks und kritische Auseinandersetzungen. Auf diese Weise hat er die Edition, das Buch, als Eintrittskarte zur Aufführung ins Rollen gebracht. Diese beflügelte Idee und sein Engagement ermöglichten mir Bücher/Eintrittskarten für mehrere meiner Aufführungen. Und heute kann ich mich mit Vergnügen, darin herumblätternd auf die Gestaltungsmomente und auf wichtige Details besinnen

 

 

Falls die Theaterkunst aus der Gestaltung der dramatischen Erfahrung entstanden ist, und diese wiederum aus dem Dramatischen, als einer der möglichen Daseinsberechtigungen des Menschen, dann erkenne ich, dass Ujević, als er seine Poesie, Prosa, Essays, Polemiken, Übersetzungen und Nachdichtungen geschrieben hat, in Wirklichkeit immer das Dramatische behandelt hat, bzw. das Drama seines Lebens.

Das Drama entsteht dann und dort, wo sich der Mensch der Dramatik seiner Existenz bewusst wird. Ujević war sich dessen fortwährend bewusst, daher wage ich zu behaupten, dass er selbst ein dramatisches Wesen und das Wesen im Drama, ist. Das „Urdrama“, das sich im Sinn und im Herzen eines jeden abwickelt, hat Ujević genialerweise in Form von Vers und Prosa zur Erleuchtung gebracht.

Sich, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu schreiben (nicht über sich!), bringt natürlich auch verschiedene Ausdrücke zu Papier, thematisch, in Form und Qualität. In Ujevićs Werk kommt das alles sehr gut zur Geltung, da er das, worüber er schreibt, nicht vom Erlebnis der eigenen Existenz und Essenz abgrenzt, und es ist nicht von der Person des Autors entfremdet, weder in der Themenwahl noch der Umwandlung in einen vorherrschenden literarischen Trend.

Wenn zwei oder mehrere entgegengesetzte Urgewalten gleichzeitig walten und einen Zustand der Spannung bewirken, was gleichzeitig den Ursprung und den Ausgangspunkt, bzw. den Anfang einer Reihe von Handlungsweisen darstellt; hier rede ich von der Spannung, die sich auf die Ganzheit des Menschen bezieht, dann entfaltet sich die Existenz des Menschen in all seiner Dramatik. Sowohl der Ursprung von Neurosen als auch der Dramatik und der künstlerischen Entfaltung. Fluch oder Segen?

 

Die Dramatik der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts, der Krieg, der Zerfall und die Neugestaltung der Europakarte, hat viele Reisende – Flüchtlinge aus Not – im wiedervereinigten Berlin, das auf der Suche nach einer neuen Identität war, versammelt.

Meine Antwort auf diese Erschütterungen war das Café der Intuition – Poetencafé Tin Ujević in 147 Einzelprogrammen.

 

„Es war zu Kriegszeiten, als das Bewusstsein auf die schnelle geformt wurde und der Instinkt fehlerlos arbeitete… Diese Degradierung der Realität zugunsten der Imitation, der Illusion, der Fiktion… stellt den wahren Gegenstand, der der Realität entrissen wurde, anstelle eines Kunstobjekts“, schreibt Tadeusz Kantor, sehr präzise bestimmend, was als Folge von Zerstörung passiert.

 

Ein Regenschirm, der nicht vor Regen schützt. Eine Ruine verschwitzter Mauern. Eine Brücke, die keine Ufer verbindet. MostAr[1]. Arrr.

Wenn ich mich auf diese Programme besinne, dann sehe ich immer zuerst einen langen Tisch vor Augen, an dem immer Mostarer saßen, allesamt Flüchtlinge, verschiedener Generationen, Opfer, die nicht einmal durch das Zählen von Blutkörperchen nach Nationalität[2], noch durch die Kriegsgeschehnisse, in denen jeder gegen jeden war, auseinandergebracht wurden. Diese Mädchen und Jungen, Frauen und Männer, leben heute auf der ganzen Welt verteilt, in Ländern, in denen sie aufgenommen wurden. Bei diesen Umsiedlungen kamen in vielen Familien Kinder zur Welt – und das Leben nahm seinen Lauf. Für mich war dieser Mostarer Tisch im Poetencafé Tin Ujevićs eine Oase des Verstands und der Menschlichkeit, ein Überlebensinstinkt, versammelt, sich umarmend, bis das Gewitter vorbeigezogen war, und zwar mithilfe von Tins Poesie und anderer Anreize für ein besseres Morgen.

Ich kann mich auch an die Geräuschkulisse des Cafés erinnern, die aus Gesprächen in mehreren Sprachen entstanden ist, da sich dort Menschen von überall her versammelten; und an die Stille, als ein Gedicht vorgetragen wurde.

Tins Poesie haben wir sowohl im Original als auch aus frisch entstandenen Nachdichtungen bzw. Übersetzungen auf Deutsch vorgetragen. Der größte Verdienst dafür gebührt  dem unermüdlichen Einsatz von Alida Bremer und Barbara Antowik. Es wurden ebenfalls Gedichte von vielen anderen Dichtern vorgetragen, im Original und in Nachdichtungen. Jedes Programm war thematisiert und in einer Reihe kurzer Szenen offener Darstellungskunst präsentiert, um so eine Überarbeitung mithilfe von Lebenserfahrungen der Anwesenden hervorzurufen, basierend auf den Texten derer, die während des Ersten Weltkriegs Zuflucht in der Pariser Rotonde gefunden haben.

Wir spannten gewissermaßen eine Brücke zwischen zwei Cafés mit demselben Bestimmungszweck, jedoch zu zwei verschiedenen Zeiten und in zwei verschiedenen Städten.

Gerade deswegen setzte ich Modigliani, Philosophen, Ehrenburg, Joyce, Bohemien, Freudenmädchen, Gertrude Stein, Camus, Nenad, Danilo, Marie Claire, Christine, Aslan, Christoph, Leonardo, Nils… und Maler, Musiker, Schriftsteller, Schauspieler, Weltenbummler, Unglücksvögel dorthin… Menschen mit wahren Namen und fiktive Gestalten, alte Ehemalige und neue Ehemalige… Werk…Körper, Gesten, Stimmen, Blicke… Gerüche und Berührungen … Erinnerungen… Verschwiegenes … einen Tropfen der Angst weniger … Hoffnung….

 

Die Szenen waren Skizzen, geprobt und arrangiert in drei bis sechs Proben, sodass sie erst beim Spielen vor dem Publikum ihre endgültige Form erhielten. Manchmal habe ich Regie geführt, indem ich mich direkt in das Spielen einmischte, die Abläufe und die Intensität, sogar die Schauspieler während des Aktes des Spielens änderte

Alles fand für siezwischen den Tischen statt, in einer Entfernung vom Publikum von einem bis höchstens drei Metern, oder veranschaulicht, die einen sahen die Abwicklung der Handlung aus der Ferne, die anderen waren im gleichen Moment Teil des Geschehens. Es wurde in mehreren Sprachen gespielt, ohne Übersetzungen, da ich mich an die goldene Regel hielt: So viele Ausschnitte aus der Literatur wie möglich im Original wiederzugeben, von Schauspielern und Muttersprachlern… denn, wenn im Raum das gut artikulierte Wort zu klingen beginnt, dann ist der Gedanke allverständlich, jeder versteht seine Atmosphäre und Energie, die Wichtigkeit der Übermittlung – ich habe nämlich nur hochwertige Literaturausschnitte gebraucht, Gedichte und Zeilen von Paul Valery, Albert Camus, Tin Ujević, Antun Branko Šimić, Tonči Petrasov Marović, Gertrude Stein, Ilja Ehrenburg, Sergej Jesenjin, Federico García Lorca,  Djuna Barnes, James Joyce, Picasso, Thomas Mann, Apollinaire und anderen Erfahrenen in neuem Licht und neuen Opfern mit großem Erfahrungsschatz.

„Ein Künstler lebt in seinem Werk, und niemals in seinem Leben, deswegen kann es keine Erniedrigung sein“, schreibt Tin Ujević in „Schallendes Geheule“, einer Protestnote zum „Interview aus Kalopsia“ vor einhundert Jahren.

Zum Glück gibt es Künstler, so können zumindest Künstler ohne Vorbehalt das Leben zelebrieren.

 

Ist es das Leben des Lebens, oder das Leben der Taten?

[1] Die Stadt Mostar in Bosnien und Herzwegowina (seine Bedutung Most = Brücke), es war gewissermaßen eine Brücke, die den Ost- und Westteil verband – den christlichen und moslimischen Teil)

[2] Hier alludiert der Autor auf die Besinnung der ethnischen Unterschiede in Bosnien und Herzegowina, die während dem Bosnienkrieg zur Geltung kamen, wer Kroate, wer Serbe und wer Moslem ist.

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