WissensDurst s. 73-75
Charakteristisch für die Kunstbewegung Fluxus ist ihre Direktheit, egal, um welches Kunstmedium es sich auch handelt, daher ist es nicht verwunderlich, dass Christoph die Inszenierung „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ von 2008, praktisch über die eigene Bestattung, als Fluxus Oratorium benennt.
„Papa, was ist das, das ewige Leben?“, ist die Frage vom Beginn dieses Stücks.
7.
Das Fremde in mir
- Tryptichon –
II
„Also, ich möchte ja sagen, der Boden wird unbedingt fett bei Leichendüngung: Knochen, Fleisch, Nägel, Beinhäuser. Grauenhaft. Werden grün und rosa beim Verwesen. In feuchter Erde verfaulen sie schnell. Die mageren alten sind zäher. Dann eine Art Vertalgung, Art Verkäsung. Dann werden sie langsam schwarz, Sirup sickert aus ihnen raus. Dann trocknen sie ein. Totenkopfschwärmer. Natürlich leben die Zellen weiter, oder was sie sonst sind. Keine Nahrung mehr, nähren sich von sich selbst.“ schreibt James Joyce im 6. Kapitel seines Romans “Ulysses”.
Joyce sucht und findet Möglichkeiten uns mit den parallelen, den multiplen und den verschiedensten Geschehnissen und Gedanken zu konfrontieren, und zwar nicht nur in „Ulysses“, sondern auch in seinen anderen Werken. Er beschreibt mit Buchstaben, Worten, und Sätzen, auf seine ganz eigene Art, die Unendlichkeit bzw. die Unabsehbarkeit des Universums des Menschen, würde ich sagen. Das Begräbnis ist für jedermann eine Provokation, eine Herausforderung, wenn man über das eigene Leben nachdenkt, überschwemmt mit dem Chaos an
Gefühlen der Angst und dem Verlust. Begräbnisse sind gesellschaftliche Inszenierungen, als Gedenken an den Verstorbenen und als Besinnung an unseren eigenen Tod.
„Lumpiges Begräbnis: bloß der Wagen und drei Kutschen. Ist aber ja sowieso egal. Bahrtuchhalter, Goldzügel, feierliches Requiem. Abfeuern einer Salve. Todespomp. Hinter dem letzten Wagen stand ein Höker, neben seinem Karren mit Gebäck und Obst. Simnelstücke sind das, aneinanderklebend: Backwerk für die Toten. Hundekuchen. Wer hat die gegessen? Leidtragende, vom Friedhof kommend.“
Wo lassen sich die Toten nieder? In der Erde? Oder ist das nur ein flüchtiger Schein?
Entgleiten die Toten durch Erdrisse, durch Löcher, durch Wasser, durch Kanäle? Entfliegen sie über unseren Köpfen hinweg, dorthin, von wo sie uns folgen und uns unter Druck setzen? Die Architektur der Gräber und Friedhöfe dient als Wahrzeichen für Bekannte und Unbekannte. In diesen Grabkammern, unter diesem Gestein und den Erdhaufen, von Bräuchen und Glaubensrichtungen gezeichnet, gibt es keine Lebenden. Die Alleen der Gräber sind keine Parkanlagen für Tote. Friedhöfe sind ein idealer Ort zum Nachdenken, zur Flucht vom Alltagsstress, für ein Gespräch mit denjenigen, die uns verlassen haben, zur Flucht vor gesellschaftlichen Zwängen – zumindest auf kurze Zeit – da es niemandem in den Sinn kommen würde, uns dort zu suchen. Falls jemandem diese wahnwitzige Idee doch einfallen würde und er sich auf den Friedhof begibt, um uns zu suchen, dann wird er stehen bleiben und sich in eigenen Gedanken verlieren. Auf dem Friedhof sind wir sicher.
„Die Leidtragenden bewegten sich langsam davon, ziellos, auf Nebenwegen, manchmal ein Weilchen stehen bleibend, um einen Namen auf einem Grabstein zu lesen. (…) Mr. Bloom ging unbeachtet an seinem Hain entlang, vorbei an trüb trauernden Engeln, Kreuzen, zerbrochenen Säulen, Familiengruften, steinernen Hoffnungen, die beteten mit aufwärts gerichteten Augen, Old Irlands Herzen und Hände. Vernünftiger, das Geld zu wohltätigen Zwecken auszugeben, für die Lebenden. Betet für die Ruhe der Seele. Tut das den wirklich mal einer? Lassen ihn ins Grab rutschen und sind mit ihm fertig. Wie eine Kohlenschütte runter…“[1]
Wo ist Joyce jetzt? Geht er mit mir durch Blooms Dublin spazieren?
Bei der Arbeit am „Joyce“-Zyklus habe ich darauf beharrt, dass die Schauspieler richtig Dampf ablassen, ganz plötzlich jede Bewegung stoppen. Paralyse. Urplötzlich. Paralyse. Ohne Logik.
Wie spielt man Paralyse? Ohne das Gefühl der Paralyse bleibt uns die Tür von Joyce Welt verschlossen. Angst. Ohne Angst zu leben, ist das überhaupt möglich?
Paralyse ist nicht mit der Angst gleichzustellen, sie entsteht auch nicht aus Angst. Es ist etwas, was plötzlich zum Stillstand und im besten Fall, wieder in Bewegung kommt, genauso wie sich die Wagenräder wieder aus dem Schlamm, dem Matsch der Erfahrungen des Friedhofs befreien, wohin sie einen weiteren Totensarg gefahren haben und auf die Todesehrung warten.
Wann flitzt der Körper aus dem Sarg? Ist die Todesfeier nur der Abschied vom Körper? Des Körpers, den wir in dieser Form nicht mehr sehen werden. Alles andere wird uns weiterhin verfolgen, mit uns fortfahren.
Nun denn! Bei der Beerdigung in meiner Vorstellung wird in den Himmel geschaut, in Diagonalen gegangen, querwegs den eigenen Körper tragend, mit dem Akzent auf den Schritt aus einem Fuß heraus, und es wird getanzt, gesungen, gesoffen bis zum Sonnenuntergang, was auch die Knochen, die über den Köpfen hängen zum Brennen bringen wird. Mit solchen Gedanken bin ich an die Realisation der fünften Szene gegangen, dem Begräbnis von Paddy Dignam, zu der sich Bloom sehr verspätet hat. Alle mussten auf ihn warten, und erst nach seiner Ankunft wurde der Friedhof mit einem Dance macabre angefacht. Und als die Feier ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde sie plötzlich abgeschnitten – Paralyse, und ging wieder weiter, als wäre nichts passiert.
Der Krebs hat ein Gesicht; davon ist Christoph Schlingensief überzeugt; er redet täglich mit dem Fremden in sich. Die Aufzeichnungen dieser Gespräche, dieses aufgesprochene Krankentagebuch, hat er in seinen Stücken montiert. Sie dienten der Auseinandersetzung mit seiner Krankheit. Die Szenen der Kathedrale der Angst vor dem Fremden in ihm waren sehr authentisch, emotional, rührend, haarscharf, ironisch, beängstigend, gleichzeitig sehr beunruhigend und ermutigend. Die Inszenierung war sehr gut besucht und richtig laut, vollgepackt mit parallelen Abläufen, sie war unverhohlen chaotisch, voll trockener Tränen, voller Angstschreie, Angst einflößendem Sichnichtzurechtfinden, Engelschorgesang, Brüche, Aufnahmen von bewegten Metastasen, Kinderspiele, Zerstörungen, zerbrochenem Glas, Deformierungen, Hostien und Masken, Brüche, Schwindelgefühle, Verlust von nahen Bekannten und unbekannten …. laut, sehr laut waren die Lautheit und die Stille, und die Konfrontationen sowie die Versöhnungen… Strudel, Angst, ein Strudel, aus dem man nicht mehr herauskommt.
Ich kann mich gut daran erinnern, wie mich dieses Stück mit seiner Atmosphäre in seinen Bann gezogen hat und wie mich meine eigenen Gedanken während der Inszenierung überrascht und gepackt haben: Christoph wird dabei sterben, das ist sein Tod, nur seiner, er ist Teil seiner eigenen Inszenierung. Dabei dachte ich mir, er wird in diesem Stück weiter und weiter spielen, bis er letztendlich bei einer der Reprisen die Augen für immer schließt. Nach der Aufführung haben wir uns die Hände geschüttelt; ich, für meinen Teil, bewahrte Stillschweigen, da ich nicht wusste, was ich ihm sagen könnte. Etwas über das Stück? Über das Leben? Über die Krankheit?
Diesen Abend ist er noch mit dem Fahrrad nach Hause gefahren, da ihn der Tod erst einige Monate später eingeholt hat, dort wo niemand gerne sterben möchte: im Krankenhaus, wenn ich mich nicht irre. „Deutschland trauert um seinen bekanntesten Theater-Provokateur. Regisseur Christoph Schlingensief ist vor wenigen Stunden seinem Lungenkrebsleiden erlegen – er wurde nur 49 Jahre alt.“[2] – so wurde am Samstag, den 21.08.2010 sein Tod verkündet.
[2] Der Spiegel vom 21.08.2010
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