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Riken-no-ken, Die Sicht der abgeschiedenen Sicht – Triptychon –

II.

Instinkt, Intuition, Intelligenz und Improvisation – dabei handelt es sich um vier verschiedene Begriffe, vier verschiedene Handlungsweisen, separat und doch vereint.

Wie ich schwimmen gelernt habe? – Das weiß ich nicht mehr. Ich weiß aber, dass ich mich von klein auf niemals vor dem Meer gefürchtet habe; gegen das Baden in der Wanne oder das Duschen habe ich mich stark gewehrt. Ich denke, dass es für meine Eltern schwerer war, mich vor dem Meer zu bewahren, als mir schwimmen beizubringen.

Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich schwimmen gelernt, als ich auf Orsula, in der Nähe von Dubrovnik, vom Boot meiner Verwandten ins Meer gefallen bin oder etwa ins Meer geschubst wurde.

Jemand, der nicht schwimmen kann, bzw. nie jemanden schwimmen gesehen hat, wird sagen, dass es unmöglich ist zu schwimmen. Wie schon Henri Bergson bemerkte und analysierte, als er über die kreative Evolution spekulierte, ist das Schwimmenlernen wahrhaftig mit etwas Außergewöhnlichem vergleichbar. Wenn wir uns ganz ohne Angst einfach ins Wasser stürzen, werden wir zuerst panisch um uns schlagen und versuchen über der Wasseroberfläche zu bleiben. Falls uns das gelingt, es ist nämlich auch möglich, dass uns dermaßen große Panik überkommt und wir untergehen, dann werden wir uns allmählich an das neue Element gewöhnen – an das Wasser. Sich an das neue Element anzupassen ist Voraussetzung, um schwimmen zu lernen.

Der Fall ins Wasser ist ein Schock. Man reagiert instinktiv, um sein Leben ringend, um sich schlagend und versucht an der Oberfläche zu bleiben. Mit Hilfe von Intuition führt man diese Bewegung fort und versucht sie zu verbessern, seine Arme und Beine in die Bewegungen einbeziehend. Die Intelligenz hilft uns dabei diese Bewegungen zweckmäßig einzusetzen, sich der Improvisation bedienend, da die Bewegungen natürlich aus dem Versuch heraus entstehen das Beste aus der Situation zu machen, und nicht aus etwas Gelerntem.

 

Am 4. August 1988 bin ich aus dem Bus in das birnenförmige Aquarium Westberlin gestiegen.

Dieser Einstieg war ein größerer Schock, als der Fall ins Wasser auf Orsula.

In der DDR durfte man nicht anhalten, lediglich an einer Stelle, etwa 150 Kilometer vor dem Ziel. Am Grenzübergang wurde man von einer mit Kalaschnikows bewaffneten Grenzkontrolle „begrüßt“ und verabschiedet. Wir mussten alle aus dem Bus aussteigen, jeder Millimeter des Busses wurde inspiziert, danach durften wir einzeln, wie Häftlinge geschützt, wieder an unseren Platz.

Da fragt man sich doch, wer ist hier drinnen, und wer draußen?

Das mit einer Mauer umzäunte Westberlin, empfand ich vom ersten Momentan an als geschützten, freien Teil des Landes.

Wer ist drinnen, und wer draußen?

Das pulsierende Leben Westberlins, trotz der Mauer, hat mir klar zu verstehen gegeben: Eingesperrt sind die da draußen, außerhalb der Mauer.

 

Jean-Louis Barrault, Direktor des Odéon-Theaters in Paris, hat im April 1968 einen Brief an Rikie Suzuki, einen Romanistik-Professor geschrieben, mit der Bitte einen japanischen Schauspieler für die Theatertruppe von Peter Brook nach Paris zu schicken. Zu diesem Zeitpunkt war der Name Peter Brook noch niemandem ein Begriff, jedoch dachte Professor Suzuki, dass das Projekt unter der Produktion von Barrault finanziell abgesichert wäre, und motivierte Yoshi Oida für dieses Vorhaben. Und so kam es, dass sich Oida nach Paris begab.

Er saß im perfekten Lotossitz, konnte kein Englisch, kein Französisch, drückte sich aber auf eine besondere Weise verständlich aus, bezeugte Brook.

Der Aufbruch in ein fremdes Land, in ein fremdes Sprachgebiet, wo andere Sitten und Gebräuche walten, und sich der soziokulturelle Umgang anders abwickelt, ist immer mit viel Mühe und Arbeit verbunden. Man muss zuerst die neue Sprache lernen, sich im neuen Raum zurechtfinden, eine Wohnung finden, eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, ein eigenes Sozialnetz aufbauen und eventuell Freundschaften schließen. Man muss die Existenz aus eigenen Kräften heraus sichern, und Möglichkeiten schaffen, um in dem Feld zu arbeiten, in dem man geschult wurde, oder in dem man sich am sichersten fühlt. Es ist ein holpriger Weg, „ein Abenteuer“, voll unvorhergesehener Ereignisse, wo man an die eigenen Grenzen des Verstandes und der Ausdauer stößt. Gleichzustellen mit den Wanderungen des Odysseus, mit Hochs und Tiefs, Aufs und Abs …. und man wird oft von dem Gefühl verfolgt, dass alles im Schneckentempo läuft, und sicherer Boden unter den Füßen noch ganz weit weg wohnt.

Mein Sprachvermögen bestand aus Kroatisch, dass ich nur unverhofft in einem engen Kreis von Auswandern nutzen konnte, Englisch, dass eher einem „Stottern“, als Sprechen nahekam, und dem Deutschen, dass sich auf die Ausdrücke „guten Tag“, „guten Morgen“ und „Danke“ beschränkte. Deswegen war das Lernen der Sprache eine Herausforderung für mich. Ich wurde von niemandem eingeladen; ich bin aus eigenen Stücken gegangen oder bin gekommen …. mit 800 DM in der Tasche, die nach einer Woche verdampft sind, als ich es schaffte, eine Wohnung aufzutreiben. Weit und breit kein Geld und keine Arbeit in Sicht!

 

Der Wind trieb mich nach Westberlin. Bis heute kann ich nicht mit Klarheit sagen, warum gerade dorthin.

 

Einige der ersten Improvisationsübungen in der neuen Umgebung haben sich tief in Oidas Gedächtnis verankert: „Zu Anfang bist du Wasser, das Wasser wird mit der Zeit bewegter, Wellen entstehen, ein Sturm kommt auf, und dann bist du ein Mensch, den der Sturm erfasst hat, du bist total erschöpft und treibst kraftlos im Wasser“… „Zu Anfang bist du Wind, der Wind wird stärker, ein Feuer entsteht, die Flammen lodern, am Ende ist nur noch Erde da.“[1]

 

Es kommen gewaltige Gefühle auf, wenn uns die vereinte und zerstörerische Kraft der Natur und der Menschen mitreißt, vereint und zerstörerisch! Die Leidenschaft der Natur und der Menschen im Konflikt – die Stärke des Überlebensinstinkts, Ausdruck des Inneren.

„Bist du nicht bereit jeden Tag an deine Grenzen zu stoßen, dann fang erst gar nicht mit dieser Arbeit an“, oft denke ich an diesen Satz von Brook, die ich nach der Teilnahme an seinem Workshop gehört habe, bei welcher es eine Aufgabe war Erde zu essen und zu erbrechen. Das war seine Art zu sagen: Dem dienen solche Aufgaben!

 

Ich spürte sofort, dass ich Theater in seiner ganzen Breite an Formen spielen musste: die Theaterarbeit wird mir helfen mich zurechtzufinden, fortzuschreiten, mich selbst und andere zu reflektieren – in der neuen Umgebung auf eigenen Füßen zu stehen.

 

Mein lieber Professor Durbešić, es lärmt in mir, wenn ich mich wie ein Maulwurf in die Arbeit stürze. Es gibt keine Zeit für Ausfälle, mit denen ich mich bemerkbar machen könnte.

Es geht hier nicht um das Philosophieren, Herr Professor; bei dieser Arbeit gibt es keine Zeit für Salon-Ästhetik oder Intellektualisierung.

Ja (!), Sie hatten Recht, Professor Filipović; es reicht jemandem in die Augen zu schauen, um in die Dramatik der Beziehungen einzutreten und eventuell auf die Bühne zu kommen.

 

Es ist vieles, ohne mein Einwirken und ohne mein Einverständnis passiert, und hat mein Leben und meinen künstlerischen Ausdruck beeinflusst.

Ich bin aus Jugoslawien nach Westberlin gekommen, eine von den westdeutschen Städten. Heute gibt es weder Jugoslawien noch Westberlin noch Westdeutschland. Die Mauer ist gefallen. Es gibt auch nicht mehr die Hasenfelder zwischen den Mauern, die zwei deutsche Staaten – zwei Städte, geteilt haben.

Die Minorität und die Machtlosigkeit der menschlichen Existenz den Mächten der Vernichtung gegenüber sind täglich sichtbar. Wenn man den Statistiken Glauben schenken möchte, dann leben in Berlin eingesiedelte Mitbürger aus 196 Staaten.

Diese Veränderungen haben sich auch auf das Theater ausgewirkt, und stellen es vor verschiedene Herausforderungen. Die Stücke haben sich verändert, sie sind im ständigen Wandel. Die Individualität und die Globalisierung fordern Ausgeglichenheit oder eine neue Dialektik.

Nach dem Mauerfall habe ich das Stück „VEB Horch und Guck“ regiert. Die Vorlage habe ich aus Briefen, privaten Aufzeichnungen und Aufzeichnungen der Stasi über die Kontakte der Familie Stefan geschrieben. Ihre engsten Familienmitglieder lebten, aufgrund des politischen Wandels, separiert in zwei Staaten, sich in den neuen Gesellschaften und gesellschaftlichen Systemen verschiedenartig zurechtfindend. Eines der Familienmitglieder aus der DDR, ein aktiver Informant, hat Informationen über die Familienangehörigen, die im Westen lebten, preis gegeben; und zwar solche Informationen, über die man nur im engsten Kreise, in vertrauenswürdiger, familiärer Atmosphäre spricht. Diese Informationen hat er bei den seltenen Besuchen der Familie aus Westberlin erfahren. Zur „Belohnung“ für diese informativ-nützige Arbeit durfte er schon Mal auf die andere Seite zu einem gut kontrollierten Besuch der Familie, um diese auszuhorchen, und aus erster Hand detailliert über die Bedrohungen des westlichen Feindes und den Freundeskreis der Familie zu berichten.

Die Uraufführung dieser Groteske in 12 Szenen wurde am 5. November 1999, mit Beginn um 19.47 Uhr, in der Berlinerstr. 46, in Berlin – Wilmersdorf realisiert.

Es spielten Ulrich Jackwitz, Maciej Lysakowski, Christiane Matthaei, Inge Sivers, Katrin Trostmann und Jens Winter. Dramaturgie und Regie kamen von mir, Christiane Matthei war für die Musik zuständig und weitere Projektbeteiligte waren Marijana Krajac, als Choreografin, Alfred Leuthold, als Lichtmeister, Jadranka Dorotić als Kostümbildnerin.

Im Arbeitsteam waren noch J.Michael Maethaei, Maria Indyk, Uta Lischke, Mona Troschke, Beate Scherer, Terezija Hirs.

Für mich war es eine große Ehre, als mir Peter Stefan seine privaten Unterlagen über das Familienschicksal seiner eigenen Familie überließ. Er kam zu mir, aus dem Publikum meiner Aufführungen und sagte, die Offenheit und Form habe ihn derart gerührt, dass er den Entschluss gefasst habe mir die Unterlagen zu zeigen, in der Hoffnung, ich würde genügend Inspiration für eine Aufführung finden.

„Die Stasi hat sich in unser Familienleben eingemischt, zum Leid meiner Familie, und zwar mit einem Ziel: die Familie zu entzweien.“, das wird aus den Unterlagen klar. „Deshalb wollte ich die Erinnerungen an die Familienversammlungen und Berichte aus den Spionageakten in Form von Theaterszenen niederschreiben, um mich zumindest teilweise mit den Lügengeschichten, die jetzt enthüllt wurden, abfinden zu können. Der Spion wehrt bis zum heutigen Tage jeden Versuch ab, über diese Geschehnisse zu sprechen. Er will oder muss weiter mit seiner Lüge leben“[2], hat Peter Stefan im Programmheft geschrieben.

[1] Zitat: „Zwischen den Welten“, S. 24, Deutsch von Buki Kim, Originaltitel: „Hyoryu-Hyora“ von Yoshi Oida

[2]

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