Riken-no-ken, Die Sicht der abgeschiedenen Sicht,-Triptychon – I ; 6-9
„Riken“ ist ein Begriff des Nō-Theaters; im Gegensatz zu „Gaken“, was die subjektive Sicht des Nō-Schauspielers von sich selbst, bedeutet. „Riken“ hingegen, die Erscheinung des Schauspielers in den Augen des Zuschauers. Die Schauspieler des Nō-Theaters üben beide Sichtweisen des eigenen Schauspiels ein, die subjektive Sicht und die Sicht des Zuschauers.
Mit der Sicht meiner selbst und meiner Erscheinung in den Augen von anderen habe ich nach einem theatralischen Ausdruck gesucht, der es mir ermöglichen würde das Gefühl auszudrücken, das mich beschäftigt. Ich habe nicht das Erzählen von Geschichten auf der Bühne ausgeschlossen, jedoch ist mir die Geschichte, zumindest im klassischen Sinne, entglitten. Ich habe die Atmosphäre oder die Summe verschiedener Atmosphären aneinandergereiht, die miteinander lediglich mit einem Thema, oder häufiger einer Person – einer Gestalt – einer Rolle verknüpft waren. Ich möchte den Zuschauer unvorbereitet erwischen, um ihn gewissermaßen zu entspannen, damit er die Gefühle und Assoziationen, die die Aufführung in ihm hervorruft, zulassen kann.
Bei meiner Besinnung auf den Schauspieler habe ich darüber nachgedacht, wie ich ihn ermutigen kann, auf dem unsicheren Boden der eigenen Platzfindung in der Aufführung, mit Intuition zu reagieren und Lösungen zu finden, die ihn selbst überraschen.
Ich befasse mich in Wirklichkeit mit der Sensibilisierung des Glitschigen, des Unsicheren, des Verborgenen und der Ausdrucksart meiner Erkenntnisse. Der Ausdruck entflieht jedes Mal, und kein Ausdruck wird dem gerecht, um all diese Mehrdeutung und die Faszination der geschehenen Momente in einer Szenenform aufzuhalten.
Ich habe es ebenfalls mit der Nichtwiederholbarkeit, der Einmaligkeit des Bühnengeschehens versucht. Diese Jahre der Zerbröckelung und Ungewissheit waren ein Lebensabschnitt von vielen, schnellen Wechseln von Ereignissen, der gefolgt wird von einer anhaltenden Gewaltigkeit des Gefühls der Trauer in scheinbaren und unscheinbaren Nuancen, ein Katapult aus dem Trog, in dem sie sich befanden. In fünf Jahren solcher einmaliger Aufführungen – Ereignisse – des Programms von 1993 bis 1997 – einhundertsiebenundvierzig Uraufführungen, die nur von denen erlebt werden konnten, die dieser einzigen Aufführung beigewohnt hatten.
Bei meiner Besinnung auf den Zuschauer habe ich nach einem Rhythmus gesucht, der im Einklang mit der Übertragung des Inhalts steht. Meine Aufführungen habe ich fast immer für eine bestimmte Zuschauerzahl gemacht, einige nur für eine Person, andere für 47 Personen und die übrigen für einen normal ausgefüllten Zuschauerraum mit bis zu 250 Plätzen. Solche Raumbestimmungen haben es mir ermöglicht einen fremden Blick als meinen eigenen, und ebenso, meinen eigenen als einen fremden, zu benutzen.
Eine besondere Aufmerksamkeit habe ich der Persona des Autors geschenkt, den sozialen und privaten Umständen, in denen er gelebt hat, seiner Gesundheit und den Krankheiten des Autors selbst und denen, die ihm am nächsten stehen, seiner Eltern, Familie und Kinder.
Ein Werk ist ein Vermerk aus dem Gefüge des Lebens und es ist dieses Gefüge, das mich interessiert.
In dem Moment, in dem ich mich ihm nähere, forme ich anhand der Auswahl der Schauspieler und Mitarbeiter die Gruppe, in der das was entsteht, etwas Unseres widerspiegelt, das was aus dem Autorhaften entsteht. Oder anders gesagt, der Autor und sein Werk sind ein Impuls, für die Assoziationen, die wir in einen Raum aufstellen, die dann aber beinahe von selbst, unsere Aufführung formen.
„Mein Kyōgen-Lehrer Yotaro Okura gab mir folgende Worte mit auf den Weg: Wir Kyōgen – Spieler haben gelernt, daran zu denken, wie wir dem Hauptdarsteller helfen können. Wenn du im Ausland bist und mit den Schauspielern dort Proben hast, denke nicht daran, wie du dich am besten hervortun kannst, sondern hab immer im Kopf, wie du spielen musst, damit du den anderen eine Hilfe bist. Stell die eigene Person hinten an, und konzentriere dich ganz darauf, deinen Partnern Bedingungen zu schaffen, sodass sie gut spielen können.“ („Zwischen den Welten“, Deutsch von Buki Kim, Originaltitel: „Hyoryu-Hyora“ von Yoshi Oida)
Ich hatte kaum jemals gesehen, nur manchmal und mancherorts, dass ein Schauspieler derart spielt, dass sein Partner vorherrscht. Unverzüglich musste ich an die bewundernswerten Lela Margetić und Pero Kvrgić in den „Stilske vježbe[1]“ (zu dt. „Stilübungen“) denken. Nur, wenn zwei auf diese Art beim Spielen aufeinander zugehen, ist es möglich, einen Dialog zu erleben und seine vollständige Bedeutung zu ermessen. Die meisten Aufführungen, die ich mir in meinem Leben angesehen habe, stanken nach narzisstischen Schauspielern und/oder aufgeblasenen Konzepten der Regisseure.
Durch das Darstellende, als Element in der Theaterkunst, tappen sicherlich viele in die Darstellungslüge. Man kann von Glück reden, wenn man den Lügenfallen entgeht, es ist aber ein großes Geheimnis, wie man das erreichen kann.
Ob wir uns dessen nun bewusst sind, oder nicht, aber unsere Erziehung, die häusliche, als auch die schulische, sowie unser Lebensstil, üben einen großen Einfluss auf uns aus. Einer meiner Professoren, Regisseur Durbešić, fragte mich, nachdem er erfahren hatte, dass ich plane ins Ausland zu gehen: „Wann ist das letzte Mal jemand, in einem Café, oder anderswo, auf dich aufmerksam geworden?“ „Was möchten Sie mir damit sagen?“, fragte ich. „Du beschäftigst dich mit einer Tätigkeit, in der du üben musst, laut zu sein, wenn du damit weitermachen möchtest. Tritt in ein Lokal ein und sage laut: Guten Abend, oder wirf einen Stuhl um, oder was weiß ich … habe keine Angst vor Ausfällen, sei nicht still.“ Ein anderer, auch einer meiner geschätzten Professoren, Vjeran Zupa, als ich ihm erzählt habe, was ich erkunden, bzw. im Theater ausprobieren möchte, wünschte mir mit den Worten Glück: „Ihre Ideen sind allzu philosophisch und Sie werden Glück brauchen, um angenommen zu werden“.
Während meiner ganzen Ausbildungszeit bei der Akademie in Zagreb, konnte man an den fünf Fingern einer Hand abzählen, dass irgendeinermeiner tugendhaften Professoren vom Menschen selbst gesprochen hat: dem Studenten, dem Spieler, dem Regisseur, dem Autor …. als wichtiger Persönlichkeit, mit etwaigen psychophysischen Eigenschaften und Wirkungsweisen, der man in die Augen schauen sollte, sehen und erleben, falls man etwas gemeinsam zustande bringen möchte … Davon habe ich nur von Professor Filipović, bei den Psychologie Kursen, die im Theatercafé abgehalten wurden, und wiederholt von meinem Mentor, Professor Kosta Spaić, in unseren aufrichtigen innigen Dialogen unter vier Augen, gehört. Ich habe mir auch gut die Worte von Professor Spaić eingeprägt „wenn du ein Ensemble führen willst, ist es wünschenswert sich als Mitglied eines Ensembles zu versuchen“. Er selbst habe Violine in einem Orchester gespielt.
Zu dieser Zeit habe ich in der Akademie einer Klonierung der Schauspielprofessoren beigewohnt, die Art wie ihre Schauspielstudenten spielten und ihre Texte aufsagten.
Was werde ich wohl jetzt auffinden?
Die Theaterarbeit in Berlin hat mich weit von dem entfernt was ich in der Akademie gelernt, bzw. nicht gelernt hatte.
Während der Schulung von Regisseuren an der theakademie in Berlin habe ich zwei Dinge aufgegeben: den Wunsch einem Studenten gegenüber meine Meinung über ein Problem mitzuteilen und die Illusion, man könne Regie erlernen.
Ich habe den Studienplan so aufgebaut, dass der Student praktisch schon ab der Aufnahmeprüfung Regie führt. Bei der Aufnahmeprüfung musste er bei einer Szene, nach eigener Wahl, Regie führen, und daraufhin, jedes Semester bei einer abendfüllende Aufführung.
Die Prüfung bestand aus „der Bewusstseins- und Gewissensprüfung“, einer Reihe von Fragen, die dabei helfen sollten, den Weg von der Idee bis zur Entstehung der Aufführung darzustellen, vom Auftrag bis zur Verwirklichung. Wir bemühten uns, auf Fragen mit neuen Fragen zu antworten. Dieser Ansatz ließ uns wahrhaftig auf Glatteis bewegen, und trieb uns ständig an, an uns zu zweifeln, uns zu überprüfen, zu reflektieren, neue Lösungen zu finden und sich mit der Unsicherheit des ewigen Wandels abzufinden.
Es zeigte sich effektiv, die Studenten anzutreiben, am eigenen Ermessen zu lernen. Es war nicht erlaubt, einem Regisseur zu assistieren. In anderen Projekten mussten die Regie-Studenten eine aktive Rolle bei der Schaffung einer Aufführung spielen: von der Produktionsarbeit, über technische Arbeit und technische Umsetzung bis hin zum Schauspiel.
Oida hat seine Tätigkeit in Brooks Ensemble mit der Technik der Improvisation begonnen, die im bis dahin gänzlich unbekannt war.
„Mit Improvisation hatte ich in meiner ganzen bisherigen Theaterpraxis noch nie etwas zu tun gehabt.
Dem traditionellen japanischen Theater – Nō und Kabuki – liegt die Idee des „Kata“ zugrunde. „Kata“ ist eine Spielform, die, vor Jahrhunderten fixiert, vom Meister an den Schüler weitergegeben wird und von diesem originalgetreu bis ins Detail kopiert werden muss. Jede Rolle hat ihre besondere „Kata“, die die Bewegung, den stimmlichen Ausdruck, das Kostüm und die Art der Interpretation bis ins einzelne gehend vorschreibt, was zur Folge hat, dass die Spielweise identisch und über Generationen hinweg stets unverändert geblieben ist. In dieser Beziehung erinnert die Anwendung von „Kata“ in Japan an das Schema, das in der westlichen Kultur für die klassische Musik und das klassische Ballett als verbindlich gilt.“[2]
Unter Improvisation in der Alltagssprache verstehen wir spontanes, kreatives und praktisches Handeln bei der Lösung eines Problems, mit dem wir konfrontiert wurden.
Die Improvisation stellt Handeln, ohne Vorbereitung dar, eine Reaktion des Augenblicks.
Ist es nicht eine Notwendigkeit an neuen Orten zu improvisieren? Oder ist es angemessener zu sagen, dass wir das Chaos ordnen, wenn wir irgendwohin neu zuziehen?
Improvisation ist eine von vielen Schauspieltechniken bei der Suche nach einer Rolle, die Ordnung des Chaos jedoch ist die alltägliche Aufgabe eines Regisseurs bei der Schaffung eines Stücks.
Die Ordnung des Chaos ist die Richtlinie unserer Existenz, in der wir suchend improvisieren und improvisierend suchen, selbst nicht wissend, was wir suchen: vielleicht Ausgewogenheit und Glück.
Yoshi Oida wurde 1933 in Kobu, Japan geboren. 1968 kam er auf Einladung von Jean-Louis Barrault und wurde beim „Theater der Nationen“ engagiert, wo er mit dem Regisseur Peter Brook zusammenarbeitet. Unter Brooks Regie spielte er in einer Reihe von Aufführungen mit: in „Orghast“ von T. Hughes (1971), „Les Iks“ von C. Tumbull (1974), „Die Konferenz der Vögel“ von Farid Uddin Attar (1979), „Mahabharata“ (1985), Shakespears „Der Sturm“ (1990) u.a.
Seit 1975 führt er selbst Regie, in und außerhalb Europas; seine Stücke sind von japanischer Mythologie, afrikanischen Folkloren und dem tibetanischen Totenbuch inspiriert.
Ich habe ihn im März 2003 in Berlin kennengelernt, als er „Mevlana Rumi Recipes For Love“ für drei Interpreten inszenierte: Joao de Bruco aus Brasilien, (Musik, Stimme, Schauspiel), José Luis Sultán aus Argentinien (Choreografie, Schauspiel) und Zula Lemes aus Brasilien (Choreografie, Schauspiel).
Ein kleiner Mann, mit breitem Gesicht und klarem Blick, ausgeprägten Augenbrauen, ergrautem Haar, ruhig, zurückgezogen, mit langsamen und unhörbaren Bewegungen. Bei den Proben der besagten Inszenierung sitzt er still da, mit halb geschlossenen Augen, ganz unscheinbar. Wenn ihm etwas beim Entstehungsprozess nicht gefällt, regt er sich nur kurz, die Schauspieler spüren das, er flüstert der Übersetzerin–Assistentin zu, was sie den Interpreten sagen soll. Diese „Zurückhaltung“, als „Distanz“ von dem was eingeübt wird, hat beunruhigende Auswirkungen auf die Schauspieler, als würde er sagen wollen: „Ihr tragt selbst die Verantwortung für eure Kreation“, und diese Selbstständigkeit und Verantwortung des Schauspielers ist nicht jedermanns Sache.
In mehreren Aufführungen, in denen ich ihn gesehen habe, ist er als Schauspieler, sehr beeindruckend – der Blick der Zuschauer bleibt an seiner Rolle haften. In allen Vorführungen schreitet er über die Bühne, als würde er den Boden nicht mit den Füßen berühren, er gleitet hinweg, spinnt, wie eine Spinne, ein Netz um die Gestalt, die er darstellt. Diese Leichtigkeit der Bewegungen seines Körpers und seiner Gesten und einfach das Atmen mit seinen Partnern in den verschiedenen Szenen, sind als etwas Unvergessliches in meiner Erinnerung geblieben.
Im Vorwort von Oidas Buch „Zwischen den Welten“, schreibt Peter Brook, unter anderem:
„Bis heute werde ich öfter gefragt: Warum eine internationale Truppe? Was nützt Leuten aus unterschiedlichen Kulturen solch ein Versuch, gemeinsam zu arbeiten? Geht das überhaupt?“ – Yoshis Buch, in dem er seine Suche als Schauspieler mit der Suche nach dem Sinn in seinem Leben verbindet, erhellt diese Fragen durch die Erfahrungen, die er gemacht hat.
Einmal erzählte er mir von einem alten Kabuki-Spieler, der gesagt haben soll: “Ich kann einem jungen Schauspieler beibringen, mit welcher Geste man auf den Mond deutet. Alles andere, von der Fingerspitze bis zum Mond, liegt bei ihm.” – “Für mich”, fügte Yoshi hinzu, “ist es ohne Belang, ob den Zuschauern nach der Vorstellung noch in Erinnerung ist, wie schön die Geste war. Mich interessiert nur eins: Haben sie den Mond gesehen?”
Mit Yoshi habe ich viele Monde gesehen.“ Peter Brook
Diese Aufzeichnung von Brook, diese Widmung an Oida, poetisch präzise ausgedrückt, stellt das Wesen des Theaters dar, das ich auch selbst suche, als Zuschauer und als Theaterregisseur.
„Papa, zeige mir den Mond“, sagt das Kind vor dem Schlafengehen.
[1] Ist die älteste Theateraufführung auf der Welt, die kontinuierlich, mit der gleichen Besetzung, über 45 Jahre gespielt wird, nach der Idee des franz. Schriftstellers Raymond Queneau, Regie: Tomislav Radić
[2] Yoshi Oida, Zwischen den Welten, S. 23
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