Riken-no-ken, Die Sicht der abgeschiedenen Sicht – Triptychon –III, Seiten 1-4
Ich habe mit der Zeit ein System von 101 Übung und Bühnenaufgabe mit einer Dauer von jeweils zehn Minuten erarbeitet, die dem Schauspieler bei der Kreation der geschriebenen oder erfundenen Figur helfen sollten.
Ein Schauspieler hat immer ein zwiespältiges Verhältnis zu der Figur, die er erschaffen soll. Die Figur spielt ein Versteckspiel mit ihm. Er sucht in und um sich herum, wo sich die Figur verstecken könnte. Falls sie sich treffen sollten, was gar nicht so selbstverständlich ist, dann bieten sie dem Publikum einen Dualismus in Form von einer Bühnenaktion, explosiv im Inneren ihrer Beziehung. Die dramatische Spannung verwickelt einen in seinen Bann, falls dieser Dualismus – weder Schauspieler noch Figur/oder sowohl Schauspieler als auch Figur – in der gespielten Szene bestehen bleibt. Es handelt sich um eine völlige Konstruktion mit Hilfe gewaltiger Konzentration, die den Zerfall der Persönlichkeit zusammenhält, die Unvollkommenheit im Einsatz, mithilfe von Angst zusammengeklebt. Das Erzeugnis des Schauspielers ist das Drama, sowie auch das Vergnügen das Gleichgewicht am Abgrund halten zu können.
Zum Zeitpunkt der Schaffung erlebt der Schauspieler das Leben der Figur und den Tod seiner Selbst. Ja, es ist wahrhaftig etwas ganz dramatisches und dem Leben an sich nahestehend.
Eine der Übungen fordert Folgendes: Der Schauspieler muss in stetiger Bewegung nach vorne, geradeaus und ohne anzuhalten, eine Entfernung von drei Metern in zehn Minuten zurücklegen. Dabei muss er bewusst atmen, einatmen durch die Nase – ausatmen durch den Mund, und ständig in Bewegung bleiben. Die Aufgabe wurde erfüllt, falls sich der Schauspieler genau vor Ende der zehnten Minute am Ziel befindet. Das ist sehr schwer zu erzielen, so dass die Zeitabweichungen sehr groß sein können. Oft ist es so, dass das subjektive Zeitgefühl die objektiv messbaren zehn Minuten in den Schatten stellen kann. Es kommen auch Gedanken auf, die die Konzentration stören können, daher verlange ich vom Schauspieler, diese Gedanken mit einem Pfiff aus der Welt zu schaffen. Es kam vor, dass oft während dieser zehn Minuten gepfiffen wurde. Eine andere Version dieser Übung war das Ausführen der Übungen mit geschlossenen Augen, mit Blick nach vorne, nur nach oben, oder auf den Boden gerichtet. Diese Übungen verhelfen uns zu einer Vielfalt des Erlebten, zum Erkennen des Zeitgefühls und zu verschiedenen Gedankengängen.
Eine weitere Übung: Der Schauspieler nimmt einen Gegenstand, von dem er überzeugt ist, dass er seiner Figur angehört und er muss nun mit diesem Gegenstand auf die gleiche Art und Weise, wie vorher und in der gleichen Zeit, die Entfernung bis zum Ziel zurücklegen.
Schon dieser augenscheinlich kleine Abstand von der eigenen Persönlichkeit überträgt sich auf die Atmung, die Bewegungen und die Gedanken des Schauspielers, zwar noch immer driftend, aber innerhalb der Sphären der fiktiven Figur. Der Gegenstand stiftet Verwirrung im Schauspieler und führt ihn auf unbekanntes Terrain. Nachdem die Übung zu Ende ist, schreibt der Schauspieler die aufgetretenen Gedanken auf. Auf diese Weise berühren sich durch die Atmung die Möglichkeiten der Gestaltung der Figur.
Zwei Momente im Leben eines Menschen sind besonders dramatisch und überwältigend: die Geburt und der Tod. Dasselbe gilt auch für das Leben der Figur. Ich versuche den Schauspieler mittels verschiedener Aufgaben und Improvisationen, auf glattes Parkett zu bringen.
Es ist wichtig zu wissen, wo der Tod auf die Figur wartet und wie sie sterben wird. Es ist immer diese Erfahrung, nach der wir suchen, egal ob die Figur, die der Schauspieler kreiert, so skizziert wurde, als wäre sie bei vollen Kräften und sehr dynamisch, bzw. eine Figur, die in diesem Stück, gar nicht erst sterben sollte. Den Tod der Figur durchlebend, denkt der Schauspieler intensiver über das Leben der Figur nach.
Wenn wir einen Großteil der Übungen schon absolviert haben, bringe ich zehn oder mehr kleine kreisförmige Teppiche in den Raum und fordere den Schauspieler auf, diese derart im Raum zu verstreuen, bzw. zu verteilen, sodass sie für ihn wichtige Segmente aus dem Leben der Figur widerspiegeln. Danach fordere ich ihn auf, sich nach eigenem Wunsch im Raum bewegend, auf jedem dieser Teppiche dieses wichtige Segment aus dem Leben der Figur auf der Teppichbühne zu seinen Füßen zu spielen. Die Wahl der Ausdrucksweise überlasse ich dem Schauspieler. Ich erwarte von ihm eine besondere Ausdrucksweise, die der Tiefe entstammt, aus der Notwendigkeit entsteht, der Gebärdensprache ähnelt. Es handelt sich dabei nicht um die Aussagekraft der Sprache, sondern um das Bedürfnis mit eigenen Ausdrucksformen, Gesten, Krämpfen und Entspannungen, Ganzkörpermuskelkontraktionen und Kontraktionen von Teilen des Körpers, etwas zu kreieren. Der Körper sehnt sich danach sich mitteilen zu können und die Aufgabe des Schauspielers ist es, Wege zu finden, sich ohne Gebrauch von Wörtern präzise zu äußern.
Denn, ist sich über jemanden oder etwas auszudrücken eine Notwendigkeit, so wird der Körper in einer ehrlichen Geste explodieren.
In der Einleitung des Buchs „The Invisible Actor“/„Der unsichtbare Schauspieler“ schreibt Oida:
„Für mich bedeutet Spielen nicht, mich zu präsentieren oder meine Technik zur Schau zu stellen. Vielmehr geht es für mich darum, mit Hilfe des Spielens “etwas anderes” zu enthüllen, etwas, was den Zuschauern im alltäglichen Leben nicht begegnet. Der Schauspieler demonstriert es nicht. Es ist nicht körperlich sichtbar, sondern im Bewusstsein des Zuschauers tritt durch die Inanspruchnahme der Phantasie “etwas anderes” in Erscheinung. Damit dies geschehen kann, darf das Publikum nicht die geringste Vorstellung davon haben, was der Schauspieler macht. Sie müssen den Schauspieler vergessen können. Der Schauspieler muss verschwinden.“[1]
„Im Kabuki-Theater gibt es eine Gebärde, die ‘den Mond anschauen‘ bedeutet und bei der der Schauspieler mit dem Zeigefinger in den Himmel deutet“, fügte Oida zu:
„Ein sehr begabter Schauspieler führte diese Gebärde mit Anmut und Eleganz aus. Das Publikum dachte: Oh, seine Bewegung ist so schön! Sie genossen die Schönheit seiner Darstellung und die Vollkommenheit der Technik, die er zur Schau stellte. Ein zweiter Schauspieler führte die gleiche Gebärde aus und zeigte auf den Mond. Die Zuschauer wussten nicht, ob seine Bewegung anmutig war oder nicht; sie sahen einfach den Mond. Diese Art von Schauspieler ziehe ich vor: denjenigen, der den Zuschauern den Mond zeigt. Den Schauspieler, der unsichtbar wird.“[2]
Jaime de Mikan, ein Tänzer und Choreograf aus Venezuela, und Teil des von mir zusammengestellten Lehrerkollegs in der Theakademie in Berlin hat die Räumlichkeiten, die vor seinen Proben von anderen genutzt wurden, jedes Mal mit Weihwasser bespritzt, um die Reste der Energie von anderen zu vertreiben, und zwar jede Ecke des Raumes, sich langsam in alle Richtungen bewegend und mit leisen, regelmäßig erklingenden Lauten, die durch die Nase atmend entstanden. Er hat das immer alleine gemacht, in Arbeitskleidung. Erst wenn er mit dem Ritual fertig war, ließ er einen barfüßigen Studenten nach dem anderen in den Raum. Jedes Mal, wenn wir uns am Eingang der Theakademie trafen, umarmte er mich und sagte: „Die Welt ist so klein, unsere Akademie hingegen so groß.“
Er hat mir mit einer Aufnahme verschiedener Naturphänomene: einem Wasserschwall, starkem Wind, einem Erdbeben und einem lodernden Wald zum neuen Jahr 2009 gratuliert… Einige Monate später wurde er tot im Treppenhaus seines Wohnhauses aufgefunden. Er spürte, dass der Tod nahe war, so habe ich später seine Glückwunschkarte gedeutet. Als er auf dem Weg in seine Wohnung war, hat ihn die Energie verlassen, von der Krankheit ausgelaugt fiel er in sich zusammen, auf der Treppe, irgendwo zwischen oben und unten…. Ich denke oft an ihn – er war ein nobler Mensch, ein Künstler mit Hingabe an die anderen.
Während der Messe war die Kirche voll von Freunden und Verehrern. Er wurde in Berlin beigesetzt, in einer stillen Trauerfeier, ohne die Anwesenheit seiner Familie, weit entfernt von seiner Heimat, in ein Grab, dass von Freunden bereitgestellt wurde.
„Hier begraben sein möchte ich nicht. Mein Leben im Ausland zu beenden kommt für mich nicht in Frage. Wohin es mich künftig noch verschlagen wird, weiß ich nicht, es ist mir auch nicht so wichtig, aber wenn es ans Sterben geht, möchte ich in Japan sein, möglichst am selben Ort, an dem ich geboren worden bin. Eine vernünftige Erklärung dafür habe ich nicht, ich kann nur sagen, dass mein Leben so und nicht anders enden soll.“ – so die Überlegungen von Yoshi Oida.[3]
Den Selbstmord des Obdachlosen, Mitglieds meines Ensembles bei der Aufführung „Untergang“, habe ich in der letzten Szene dieser Aufführung stilisiert. Er hat sein Leben zwei Wochen vor der Premiere aufgegeben. Wo wurde er beigesetzt?
Er wurde in einer Telefonzelle, unter dem Apparat verkrampft, aufgefunden. Als ein zufälliger Passant die Tür öffnete, stürzte er mit der Hand auf die Straße, die dort zur Ruhe kam.
Diese Aufführung entstand durch die Initiative von Herrn Rainer Roepke, Leiter des Amts für Soziales in Berlin-Mitte (ehemals Ostberlin). Bei seinem Anruf hat er mir vorgeschlagen auf das immer größer werdende Obdachlosenproblem und die Menschen, die in Parks, auf Bahnhöfen, Baustellen und anderen Plätzen leben mit einer Theateraufführung zu verweisen, ihre missliche Lage aufzuzeigen, indem man sie auf die Bühne bringt, ins Rampenlicht, ihnen die Möglichkeit gibt sich auszudrücken, zu Wort zu kommen, gehört zu werden, und auf diese Weise eine gesellschaftliche Diskussion zu starten, mit dem Ziel politische Lösungsansätze zu diesem brennenden Problem zu finden.
Von Anfang an war dieses sechsmonatige Projekt etwas breiter angelegt. Wir haben verlassene Häuser besetzt, und die Obdachlosen dort untergebracht, unter stillschweigendem Einvernehmen der Politik haben wir eine Zeitung initiiert, die von Obdachlosen geschrieben, bearbeitet und für ein Taschengeld in U-Bahn-Stationen, vor Kaufhäusern und auf der Straße verkauft wurde. Für die Aufführung habe ich etwa sechzig Leute versammelt. Im Haus der Jungen Talente (das heutige Podewil), auf einer ganzen Etage mit mehreren Zimmern, haben wir für sie einen provisorischenArbeitsplatz, eine Küche und Schlafräume geschaffen. Es wurde dort gemeinsam gespielt, gegessen, geschlafen, Wäsche gewaschen, alles derart organisiert, dass eine solche Gruppe von Menschen miteinander kommunizieren und bestehen konnte. Trotz der großen Anzahl an Mitarbeitern und der guten Organisation kam es zu einer Reihe von Exzessen, Streitigkeiten und Reibungen zwischen den Obdachlosen, manchmal sogar zu körperlichen Auseinandersetzungen. Ich habe versucht, die dadurch resultierende Dynamik und Energie in den Prozess der kreativen Darstellung zu kanalisieren. Das war im Jahr 1990. Die Aufführung spielten wir zwei Wochen lang, täglich. Alle Termine waren schon vor der Premiere vollends ausverkauft. Es war das erste Mal, das in Deutschland Berber (Obdachlose) spielten, und die Bühne ihnen gehörte. Das Projekt war natürlich auch sehr in den Medien präsent, da es sehr viele pikante, interessante, exzessive Details gab, aus denen tolle Geschichten erzählt werden konnten.
[1] Yoshi Oida, Der unsichtbare Schauspieler, im Original: The invisible actor, S. 20
[2] Yoshi Oida, Der unsichtbare Schauspieler, im Original: The invisible actor, S. 20,21
[3] Y.O., Zwischen den Welten
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