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WissenDurst s.55-57

Damals habe ich an einen etwas ruhigeren Anfang des ersten Jahrhunderts des neuen Millenniums geglaubt; ich dachte, die Zerstörungsphase ist hinter uns, neue Landkarten und geopolitische Karten wurden realisiert, sodass man nun in die Konjunkturphase übergehen kann. Ich habe mich geirrt.

Das Wind Spiel Theater habe ich in teNTheater umbenannt, da ich glaubte, dass die Zeit gekommen war sich mehr den Möglichkeiten und den Grenzen des Medienspektrums zuzuwenden.

Ich glaubte, dass ich mit der Trilogie „Don Quijotes Doppelgängner“ das dramatische Spiel der Winde im zerstörerischen Windböengebiet zu Ende bringen würde. Ich habe mich geirrt.

Ich war überzeugt, dass ich den funkelnden Schatz an Erfahrungsreichtum aus der Arbeit am Wind Spiel auf andere Art und Weise in den kommenden Jahren nutzen werde, und das tue ich auch. Jedoch, der Gestank des Krieges, der Zerstörung und Fäulnis, wird unglücklicherweise immer intensiver, nur anders verteilt.

Und immer wieder: Menschen sterben, Menschen hungern, die Gewalt regiert.

Auch nach Berlin kommen immer mehr Flüchtlinge, Asylbewerber und Opfer bewaffneter, religiöser und wirtschaftlicher Auseinandersetzungen.

Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob die Wirtschaftspolitik zugleich auch ein Kriegsmanöver mit anderen Mitteln ist?

Obwohl die meisten vom Roman „Don Quijote“ von Cervantes gehört haben, haben die wenigsten diese eintausend Seiten auch gelesen. Nichtsdestotrotz sind einige Episoden aus dem Roman allbekannt und werden oft als allgemeinsprachliche Bezeichnungen verwendet, wie zum Beispiel der Kampf gegen Windmühlen, bzw. der Begriff gegen Windmühlen kämpfen. Don Quijote wurde zur Symbolfigur, auch für die, die den Roman nicht gelesen haben. „Der Ritter von der traurigen Gestalt“ ist wegen seiner Verwirrung zwischen Einbildung und Wirklichkeit für die einen ein Idealist und für die anderen in ständiger Beziehung mit der Welt, die ihn umgibt.

 

Ich habe bemerkt, dass die meisten Flüchtlinge in unbekannten Situationen kurz auflachen, wobei dieses Lachen eine Zuckung versteckter Angst darstellt, die sie nicht zeigen wollen.

Als Symbolfigur bringt uns der verprügelte Ritter mit seiner Beziehung zur Welt, in der wir selber leben, zum Lachen, daher war Don Quijote in der Trilogie der Spiegel des 20. Jahrhunderts, in dem sich die Ereignisse widerspiegelten und die Ritter-Doppelgänger bespiegelten.

Mich interessierten die assoziativen und wirklichen Überlappungen, Reflexionen, Ähnlichkeiten der Zustände des letzten Jahrhunderts des zweiten Millenniums mit denen im Roman.

Ist der Idealismus ein Verlust an Realität? In welchem Verhältnis stehen Wahn und Wahrheit? Ist in einem Jahrhundert mit zwei Weltkriegen und anderen Kriegen nicht der Wahn die offensichtliche Wahrheit?

Nein, es wird nicht geweint, Leid kennt keine Tränen; man sehnt sich eigentlich nur nach Umarmungen, einer Schulter, Wärme.

Wie findet man eine Umarmung?

Im Programmheft kann man sowohl über die Entstehungsgeschichte des Stücks als auch über die Dramaturgie und die Textmontage lesen.

Hegels Meinung über die vernünftige Wirklichkeit und die Zukunft, die sich an ihr stützt und anbaut, ist gewissermaßen überholt. Man muss sich daher nicht wundern, dass viele Schriftsteller die Figur des Don Quijote als Möglichkeit der Reflexion der Zeit, in der sie leben, nutzen, im philosophischen und politischen Sinne. Ich habe mich für drei von ihnen entschieden: Thomas Mann, Ludwig Tieck und Jorge Luis Borga.

In seinem, geografisch gesehen, sehr kleinem Land, La Mancha, war Don Quijote ständig in Bewegung, er reiste auf einer Topografie der Ungerechtigkeit, dessen Ursachen er annullieren und die Ungerechtigkeit aus der Welt schaffen wollte. Kann man eigentlich sagen, dass Don Quijote eine Art Metamorphose des Odysseus ist? Ist nicht er eine der Figuren, die seit den Zeiten von Homer bis heute, reisend tätig sind, aus subjektiven oder wahren Gründen, die eigene Existenz darin suchend die Dinge „ins rechte Lot“ zu bringen?

Er hat sozusagen seine Doppelgänger in die Welt gesandt.

Muss man die Realität enthaupten, um das Ideal des persönlichen Idealismus zu finden?

Die Abenteuer des Ritters sind Reiseerlebnisse, gleichermaßen haben auch seine Doppelgänger eine reiche Reiseerfahrung, der Verlagerung, des Lebens zwischen Räumen.

Ist hier eigentlich die Rede von Abenteuern? Sind das nicht einfach Notwehrreaktionen, ein Instinkt der Selbstverteidigung?

Thomas Mann flüchtete vor dem Naziregime mit dem Schiff nach Amerika, er las auf dieser Fahrt den Roman über Don Quijote und schrieb seine Tagebuchprosa „Die Meerfahrt mit Don Quijote“. Jorge Luis Borges kam nach Europa, um dort zu sterben, um dort die Turbulenzen seiner unermüdlichen Reisen in die Räume des Geistes und des Intellekts ausklingen zu lassen.

Die Übersetzung von Cervantes Roman über den Ritter der traurigen Gestalt ins Deutsche von Ludwig Tieck ist bis heute noch unübertroffen, sodass man fast denken könnte, es handele sich um seinen eigenen Roman.

Übersetzungen sind wie Wasser zwischen zwei Ufern, Widerspiegelungen zweier in einem. Doppelgänger.

Das Stück wurde an Plätzen in Berlin realisiert, die mit Geschichtserfahrungen getränkt sind. Busse fuhren die Zuschauer von einem Ort an den anderen, zwischen drei Orten, drei Aufführungen.

Die Aufführungen sind in der Zeit entstanden, als das wiedervereinte Berlin noch nicht herausgeputzt wurde und die Spuren der jüngsten Vergangenheit noch nicht aus dem Weg geräumt waren. Das ist wahrhaftig eine Stadt, in der Verbrechen und Strafe an einem Ort wiederzufinden sind und die Vergangenheit die Gegenwart neurotisch aussehen lässt.

Ein Spaziergang durch Berlin-Mitte war damals gleichzustellen mit dem Gang über Furchen und Gräber, als würde uns jeder Schritt näher an die rezenten Ereignisse bringen. Alles ist bereit für eine Transformation, für ein neues Bild der Stadt, jedoch braucht man für diesen Prozess, außer Willenskraft, Ideen, Geld und Zeit.

Das Prinzip der assoziativen Dualität mit Don Quijote habe ich auf allen Ebenen der Aufführung verwendet. Ich engagierte meistens Künstler, die vorher oder unmittelbar zu dem Zeitpunkt als ich das Ensemble zusammenstellte durch Erdbeben und Versetzungen, Flucht oder Flüchtlingskrisen, für einen kurzen Moment Halt in Berlin machten.

Demnach, habe ich keine Einteilung nach Rollen vorgenommen, sondern mich dafür entschieden diese Truppe zusammenzuführen, damit sie die Trilogie mit eigenen Erfahrungen bereichern können, indem sie sich am Angebot des Werks von Cervantes und der drei aufgeführten Schriftsteller orientierten.

Ich bemühte mich Widerspiegelungen und das Multiplizieren von Situationen, niedergeschriebene und durchlebte, vergangene und gegenwärtige Erfahrungen und Erlebnisse, zu kombinieren.

„Welche Riesen?“, fragte Sancho Panza

„Die du dort siehst,“ antwortete sein Herr, „mit den gewaltigen Armen, die zuweilen wohl zwei Meilen lang sind.“

„Seht doch hin,“ sagte Sancho, „dass das, was da steht, keine Riesen, sondern Windmühlen sind, und was Ihr für die Arme haltet, sind die Flügel, die der Wind umdreht, wodurch der Mühlstein in Gang gebracht wird.“

„Es scheint wohl“, antwortete Don Quijote, „dass du in Abenteuern nicht sonderlich bewandert bist, es sind Riesen, und wenn du dich fürchtest, so gehe von hier und ergib dich indessen dem Gebete, indem ich die schreckliche und ungleiche Schlacht mit ihnen beginne.“[1]

 

Kann man die Gefahr riechen? Wie kann man ihr entgehen? Sollte man sich in sie stürzen oder fliehen? Darüber haben wir stundenlang gesprochen.

Als Stipendiat seines Landes kam S.T. während seiner Studienzeit in Deutschland in den Sommerferien regelmäßig seine Eltern besuchen… bis auf einen Sommer, als man ihm meldete, er solle nicht kommen, da Unruhen im Land stattfinden. Er ist nicht ins Flugzeug gestiegen und überlebte. Einundzwanzig Personen seines engeren und weiteren Familienkreises wurden in der Revolution ermordet.

Bei der Flucht spielt die Musik ein Gewirr aus menschlichen Stimmen und Schritten, lehrte mich R.T., als wir an die Kolonnen von Flüchtlingen dachten, die mit bepackten Wagen den Bewegungen der Kolonne folgten und ins Unbekannte aufbrachen. Sogar, wenn sie irgendwo ankamen, gönnten sie sich keine Verschnaufpause, obwohl sie wussten, dass sie Glück hatten und überlebt haben.

„Ich muss die dunkle Seite meiner Vorfahren und ihre Flucht von hier in meinen Geburtsort untersuchen“, ist der Programmton von M.K., als er nach seiner Familiengeschichte in Deutschland suchte. Er verließ sich auf das Didgeridoo, laut der Legende ist es die Vibration der mystischen Seele einer Schlange, Symbol der Weisheit, eine onomatopoetische Nachahmung der Laute der Aborigine Ureinwohner Australiens. Das Instrument, das er in dem Land, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist, gelernt hat zu spielen.

Der Klang des Raumes ist wichtig. Wir haben ihm große Beachtung geschenkt. Dem Klang und dem Raum.

„In Altersheimen sitzen die Menschen meist still beisammen“ – sagte WissensDurst zu mir. „Du müsstest diese Stille hören, dieses Echo des Brunnens der Einsamkeit.“

Überall wo er seine Nase hineinsteckte, während er als Alten- und Krankenpfleger arbeitete, wurde er mit dieser Stille konfrontiert.

Menschen verstecken ihre Emotionen hinter einem Lächeln und Stille bewahrend, dachte ich mir.

WissensDurst pflichtete mir bei und ergänzte noch: „Still sein und vergessen! Kann man das eigene Leben vergessen?“

Sich verstecken, die erste Gelegenheit abwarten und fliehen, das ist die Erfahrung eines jeden Flüchtlings.

Allerdings hielt Berlin nach der Wiedervereinigung viele Verstecke, in die man sich flüchten konnte, parat. Ich entschied mich für die Ruinen entlang der Spree. Ein tolerierter Underground Jugendtreffpunkt in der DDR, der neben Musik und Drogen, dafür dienen sollte, den Aufstand auszuleben; der sog. Deli Club. Von dieser Stelle aus ist von einem Floß, das aus Obstkästen gemacht war, ein Schiff voller Flüchtlinge, murmelnd und singend, nach Amerika aufgebrochen, darunter auch Thomas Mann – „Fliehen mit Don Quijote“.

Das Cello fiept im Raum, wo sich die Politik mit Menschen befasste, ihre Schicksale bestimmte, im ehemaligen Parlament, im Sitzungsraum mit stechend roten Plüschstühlen, in der ehemaligen DDR. Die Sicht vom Balkon des Gebäudes reicht bis zum gesprengten Stadtschloss, das erneut, jahrelang schon, wiederaufgebaut wird.

[1] Don Quijote

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