WissensDurst s. 65-67
Frau A. geht in ihrer Wohnung ständig auf und ab, von morgens bis abends. Wenn sie aus ihrem Zimmer geht, muss man sie wieder ins Zimmer zurückbegleiten, da sie den Weg einfach nicht mehr finden kann. Es kam auch schon vor, wenn sie nachts auf die Toilette ging, dass sie ohne Hilfe ihr Zimmer nicht mehr finden konnte. Und so beginnt ihr nächtlicher Spaziergang, der manchmal in einem fremden Zimmer oder in einem fremden Bett endet. Die Toilette findet sie auch mit geschlossenen Augen, da es die erste Tür neben ihrem Zimmer ist; sie ist ständig geöffnet und das Licht ist immer an. Der Spaziergang hat sie anscheinend nicht ermüdet. WissensDurst ist jedes Mal verwirrt, wenn sie ihn immer aufs Neue begrüßt, wie jemanden, den sie das erste Mal sieht. In diesem Moment strahlt ihr Gesicht förmlich vor Freude, sie murmelt etwas vor sich hin, ein unkontrolliertes Lächeln huscht ihr über das Gesicht und sie geht weiter. Wenn sie sich in einigen Minuten wieder treffen, dann fängt das Ganze von vorne an, als wäre es das erste Mal.
Ach, wenn ich nur einen Schauspieler finden könnte, der in der Lage wäre eine solche Begegnung mit dem gleichen Eifer auf der Bühne zu spielen. Wenn man der unangenehmen Lüge, dem Gelernten, Wiederholten irgendwie entfliehen könnte; diesem Aneinanderkleben der Imitation des Lebens auf der Bühne, wovon ich oft genug Zeuge wurde.
Denke dir eine Trainingsmethode aus, mit der man dieses Unwiederholbare erzielen kann – weise mir den Weg.
Deswegen schicke ich dich in die Welt hinaus, damit du mich mit deinen Erlebnissen auspeitschen kannst – antwortete ich. – Ich betrachte deine Erlebnisse und versuche den Schlüssel zu finden diese verschlossene Tür im Inneren des Schauspielers zu öffnen, die durch das Erwachsenwerden verwahrlost ist.
Ich bin quasi dein Spion –entgegnete er ruppig
Du konfrontierst mich mit dem Unmöglichen, – versuchte ich ihm zu erklären – mit meinem Unwissen, meiner Überheblichkeit, meinen Grenzen.
Jemand Unbehagliches. – ergänzte er meine Gedanken – und, wie lebt es sich mit mir, deinem Unbehagen?
Mal so, Mal so! Man lebt! – beendeten wir unsere Auseinandersetzung.
Mit der Zeit lernte er auch ihren Ehemann und ihre zwei Töchter kennen. Sie verbrachte jedes Mal ein, zwei Stunden mit ihnen, ohne zu wissen, wer sie sind. Sie wollte keinen Spaziergang mit ihrem Mann machen – die Angestellten würden sie auch nicht alleine mit ihm lassen – sie kreiste hauptsächlich im Zimmer um ihn herum, und er musste sich in den Sessel setzen, damit ihm nicht schwindelig wurde. In der Krankengeschichte kann man lesen, dass ihr Ehemann mit ihrer Vergesslichkeit nicht zurechtkam; manchmal wurde er so wütend, dass er sogar einige Male handgreiflich wurde. Als, durch die Hilfe der Tochter, endlich akzeptiert wurde, dass Mama ihr eigenes Leben völlig vergessen hat, und dass sie Hilfe benötigt, haben sie sie in dieser Wohnung für demente Personen untergebracht.
Scheinbar kann man das eigene Leben vollständig vergessen. Was bringt mir diese Erkenntnis? Ein mulmiges Gefühl stieg in mir hoch, ich fühlte, wie meine Nerven zitterten und ich das Selbstbewusstsein über meine Taten infrage stellte. Was, wenn ich eines Tages mein eigenes Leben vergesse? Vergesse ich dann auch, dass sich andere wieder um mich kümmern? Die Frage des Vertrauens stellt sich dann gar nicht mehr. Kennt der Säugling das Vertrauen?
Aus dieser Sicht heraus handelt es sich wahrscheinlich um das Vertrauen der handelnden Person in die eigene Handlungsweise, mit der sie die Bedürfnisse des anderen, des bedürftigen Wesens, befriedigen wird. Hat die Hilflosigkeit immer ein eingeschränktes Handeln zur Folge? Was ist demnach Vertrauen?
In der praktischen Arbeit führe ich den Schauspielern immer die Wichtigkeit des Vertrauens in den Partner, das Vertrauen zwischen den Partnern, vor Augen, um so ein Verhältnis zu schaffen, dass auch das Publikum als interessant empfindet.
Ist das Vertrauen messbar?
Stellen wir uns einen Bühnendialog vor, der mit einem Mord endet – wurde damit der Dialog unterbrochen? Hatte der Mörder Vertrauen in sein Opfer? Hat sich die ermordete Person vertrauensvoll in den Dialog eingelassen? Hat das Opfer daran geglaubt, liquidiert zu werden? Hat der Mörder geglaubt, zu töten?
Die Frage des Vertrauens ist wichtig, auf der Lebensbühne und ebenso auf der Theaterbühne.
WissenDurst dachte oft über die Frage des Vertrauens nach, als er die Windeln eines völlig steifen und ans Bett gefesselten Herren, der weder sprechen noch einen einzelnen Ton von sich geben konnte, wusch und dessen Kleidung wechselte.
Wo schaut er hin? Was sieht er?
Er wünschte, – Guten Morgen, – als er in das Zimmer einer blinden, älteren Dame eintrat. – Ich bin heute hier zur Aushilfe… um Ihnen zu helfen, gnädige Frau.
Oh, ein Mann, – sagte sie – wie heißen Sie?
Durstig, antwortete er, er wählte diese Variante seines Namens, weil ihm dieser in diesem Moment vertrauter vorkam.
- Haben Sie eine Spritze? – überraschte sie ihn. – Ich will nicht mehr so weiter leben.
- Aber, aber, – tadelte er sie, – Begrüßen Sie den neuen Tag; er bringt uns vieles Unverhofftes. Sind Sie nicht gespannt darauf zu erfahren, was uns dieser Tag bringt?
- Ach, dass ich mich nicht bewegen kann, das macht mich verrückt. Wissen Sie, ich bin fünfundneunzig Jahre. Mein Kopf funktioniert noch immer, und keiner kann mich übers Ohr hauen, aber meine Knie, meine Beine, ich sehe nichts… es reicht mir!
- Och, gnädige Frau….
- Im Krieg war ich beim Roten Kreuz tätig, zuerst in Berlin, dann wurde ich von den Franzosen, danach von den Engländern übernommen und habe dann für sie gearbeitet, immer in Berlin; hier bin ich auch geboren und habe meinen verstorbenen Ehemann kennengelernt. Ich war Abteilungsoberschwester, immer in Bewegung …. verstehen Sie?
- Tja, das ist leider so, keiner von uns weiß, was ihn erwartet.
- Ich weiß, man muss die Sachen nehmen, wie sie kommen, aber hier hat keiner Zeit, das ist Nichts.
- Ich glaube Ihnen das, aber die Kolleginnen und Kollegen geben sich Mühe. Sie sind einfach überfordert, es herrscht Personalmangel; sie schaffen es nicht, noch mehr Zeit für jeden aufzubringen.
- Beknackte Politik, die Alten werden wie Mastgänse abgefüllt, damit sie so schnell wie möglich abkratzen, Profit, immer nur Profit. Ich kann nirgenwo hin, mein Sohn hat meine Wohnung verkauft, damit ich hier sein kann, die bekommen hier mein ganzes Geld und mein Sohn muss noch drauf zahlen. Oh, es reicht mir!
- Man lebt so lange, wie Gott es für uns vorgesehen hat, so heißt es im Volksmund.
- Kommen Sie mir bloß nicht damit. Was für ein Gott, das sind Dummheiten. Wenn es ihn gäbe, dann gäbe es nicht ständig Armut, Kriege, Kinder, die auf der Straße leben… ach, was für ein Gott – Religionen rauben auch noch das letzte Fünkchen Verstand, was einem geblieben ist.
- Na gut, ich habe jetzt nicht direkt an die Kirche und Religionen gedacht, sondern an das Gewisse Etwas, das Universelle.
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