Riken-no-ken, Die Sicht der abgeschiedenen Sicht – Triptychon –II, Seiten 4-6
In dieses Programmheft habe ich einen Eintrag aus meinem Regienotizenheft vom 30.09.1999 übertragen:
-„VEB Horch und Guck“ ist ein Theaterthema, das vom Leben angeregt wurde;
– Thema: Eine Gesellschaft, in der die Ideologie dominiert – das Individuum als Maschine,
die Maschine im Individuum;
– das Verb: Zermahlen, ist das Hauptmerkmal dieses Themas;
– das Substantiv = Individuum = Nummer/Nummer im Raum = Summe.
Ferner habe ich Sätze aus dem Text zitiert, die für den Regievorgang und die Motivation diese Aufführung zu realisieren, wichtig waren:
1.
„Nach unseren Erkenntnissen bieten die Familien hervorragende Perspektiven hinsichtlich uns interessierender Objekte sowie geeigneter Kandidaten für operative Aktionen.“
2.
„Glückwunsch E., dafür muss man ein Händchen haben!“
3.
„Nur die Reste von niedergebrannten Häusern und überall Schutt und kein Licht auf den Straßen.“
4.
„Kontrolliere dich selbst, kontrolliere jeden um dich herum.“
5.
„Ich erinnere mich nicht.“
- „Wie kann ich mich maskieren?“
7.„Während des Laufens hat der Student wiederholt in seinen Taschen nach Taschentüchern gesucht, hatte aber selten damit Erfolg.“
8.
„Sie tragen ja Westschuhe.“
9.
„Das neue Deutschland wird nicht ausgeliehen, es will verteidigt sein.“
10.
„War er ein guter Lügner?“
11.
„Immer dasselbe Stück.“
12.
„Ich muß mein Warten an andere übergeben.“
Zwölf Sätze, jeder dient als Achse und als Sinn der einzelnen Szene…..
Das Stück habe ich all denen gewidmet, die sich, in dem was es mit sich bringt, nicht erkennen möchten, bzw. denen, die ihre „politisch bewusste” Vergangenheit verschweigen und vergraben möchten. Hier und woanders.
Die Leute, die ich für dieses Projekt zusammengetrommelt habe, lebten in dieser deutsch-deutschen Problematik, mit Familienmitgliedern zu beiden Seiten der Mauer; in der polnisch-sozialistischen Maschinerie der Entfachung der Angst gegenüber „Westlern“. Sie haben auf verschiedene Art den Krieg der 90er gespürt, daher waren die Proben ausgefüllt mit inspirierendem Austausch von Erinnerungen und Erfahrungen und einer prägnanten Intimität.
Ich habe mich entschlossen, aus den Unterlagen eine Groteske zu machen, so habe ich, vor allem in der fünften Szene, die Absurdität der Situation in Bezug auf den Teil der Familie zugespitzt, der auspioniert wurde.
„Nehmen Sie Platz. Was haben Sie am 1. Mai 1965 in der Eisdiele der Friedensstraße 1 gemacht?“
„Ich erinnere mich nicht.“
„Sie geben zu, dass Sie in der Eisdiele gewesen sein können?“
„Ich verweise auf meine Antwort zur diesbezüglichen Frage.“
„Sie haben gerade auf meine Frage, was Sie am 1. Mai in der Eisdiele Friedensstaße 1 gemacht haben, geantwortet, dass Sie sich nicht erinnern. Damit haben Sie zugegeben, dass Sie nicht ausschließen wollen, dass Sie in der Eisdiele gewesen sein könnten.“
So beginnt die Szene, mit der Zermahlungstechnik, und dann, Schritt für Schritt, systematisch, immer zügiger, bis der Befragte zermahlen ist, bis man ihn an den Punkt gebracht hat, an dem er das zugibt, was ihm zur Last gelegt wird.
„Waren Sie am 1. Mai nicht auf der 1. Mai-Kundgebung des FDGB auf dem Alexanderplatz?“
„Ich erinnere mich nicht.“
…..
„Gehen Sie nicht zu den Kundgebungen des FDGB am 1. Mai auf den Alexanderplatz?“
„Ich kann mich nicht erinnern, am jedem 1. Mai zu den Kundgebungen des FDGB auf dem Alexanderplatz gegangen zu sein.“
„Können Sie sich erinnern, irgendetwas an diesem 1. Mai gemacht zu haben?“
„Ich erinnere mich nicht, irgendetwas an diesem 1. Mai gemacht zu haben.“
„Können Sie sich vorstellen, dass Sie sich daran erinnern werden, was Sie an diesem 1. Mai gemacht haben?“
…
„Haben Sie am 1. Mai in der Eisdiele in der Friedensstraße 1 zwei Kugeln Vanilleeis verzehrt und anschließend die Rechnung bezahlt?“
…..
„Ist Ihnen das Gedicht ‘Das Eis am 1. Mai‘ bekannt?“
„Mir ist ein so benanntes Gedicht nicht bekannt.“
„Haben Sie ein solches Gedicht geschrieben?“
„Ich habe viele Gedichte geschrieben und erinnere mich nicht an alle Titel aller Gedichte, deren Verfasser ich gewesen bin.“
„Sie geben zu, dass Sie ein solches Gedicht geschrieben haben könnten…“
…
Und die Zermahlungsmaschine der Persönlichkeit macht unermüdlich weiter, bis der Agent ein Bild hervorholt, auf dem der Befragte ein Eis schleckend in der besagten Eisdiele zu sehen ist.
„Das Bild zeigt mich in der Eisdiele.“
„Ich habe Sie am 1. Mai in der Eisdiele fotografiert.“
„Richtig, jetzt erinnere ich mich: Sie saßen in der linken Ecke, aßen Vanilleeis und lasen im Neuen Deutschland.“
„Das ist die Wahrheit.“
„Ich schrieb gerade ein Gedicht. Ja, es war das Gedicht über das Vanilleeis.“
„Das ist die Wahrheit.“
„Als ich von der Toilette kam, war das Gedicht von meinem Tisch verschwunden.“
„Das ist die Wahrheit.“
„Haben Sie es genommen?“
„Ich nahm es in Verwahr.“
„Ich erinnere mich: als ich das Gedicht verlor, habe ich es vergessen.“
„Das Gedicht sprach für sich selbst.“
“Das Gedicht spricht für sich selbst.“
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