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3. WissensDurst S.43-46

Schreiten erlebe ich wie Musik, und wenn man aus dem Takt gerät, dann muss man wieder die Harmonie der Musik walten lassen, falls wir nicht über unsere eigenen Füße gestolpert sind, und sogar dann.

Der Schritt ist ein musikalisches Intervall, ein Zwischenraum, Abstand zwischen zwei gleichen oder nacheinander folgenden Tönen.

Die Schritte spielen auf der ganzen Tonskala, doch wenn ein Schauspieler – eine Figur, den Schritt ändert, ist es, als würde sich ein neues Fenster für das Publikum öffnen.

 

WissensDurst hat mir gezeigt, dass es wirksam ist, den Schauspielern bei der Kreation ihrer Figur zu helfen, indem man sich auf das Gehen, den Fuß-Boden-Kontakt konzentriert. Jede Figur hat ihren eigenen Stepp – Tanz. Wenn der Schauspieler dieses Geheimnis lüftet und präzise spielt, wird die Bühnenfigur garantiert große Beachtung beim Publikum finden.

Auch im Verkehr wird manchmal das Schritttempo genutzt, in dem Fall fährt man etwa 3,6 km/h. Das bedeutet, dass man jede Sekunde einen Meter vorankommt.

 

Straßen leben mit ihren Passanten, sie wahren ihre Geheimnisse.

Es gibt Straßen, die wurden für große Paraden und besondere Anlässe gebaut, gewissermaßen zum Gedenken. Das Brandenburger Tor, gebaut auf Anweisung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II am Ende des 18. Jahrhunderts, ist das Wahrzeichen von Berlin. Es ist ein imposanter Ort, an dem Geschichte geschrieben wurde und große Anlässe der Gegenwart gefeiert werden. Hier werden sportliche Erfolge und Silvester gefeiert und es finden wichtige politische Ereignisse statt.

Das Brandenburger Tor markierte auch die Grenze zwischen Ost- und Westberlin, und dadurch zwischen zwei Deutschlands. Es war bis zur Wiedervereinigung zweier deutscher Staaten Symbol des Kalten Krieges und wurde danach zum Symbol des vereinten Deutschlands und Europas.

Viele Armeen gingen hindurch, zeigten ihre Macht, sie marschierten mit präzisem Tempo, vom Anlass abhängig zwischen 60 bis zu 140 Schritten pro Minute, der Doppelschritt im Marsch ist achtzig bis einhundertfünfzig Zentimeter.

Wenn man die Aufzeichnungen der Märsche, hier und woanders, aus dem Ersten Weltkrieg betrachtet, dann wird die Armee von einem Kavallerist, Reiter mit Degen angeführt; es wird in Reihen marschiert, drei in einer Reihe, die Hosen in den Stiefelbeinen, höher rangierte tragen Helme mit Verziehrungen, mit mächtigem Bart auf vielen Gesichtern.

Der Zweite Weltkrieg brachte ein geschmücktes Auto an die Spitze der Kolonne, Pferde für das Schleppen der harten Artillerie, Lastwagen mit und ohne Soldaten, überall Flaggen, geschmückte Häuser und Massen in nationaler Ekstase.

 

Trommeln, Trommeln, Trommeln!

 

 

 

 

Wie könnte man das 20. Jahrhundert als Theaterdarstellung resümieren? Was ist wichtig in ihm, überwältigend und für alles andere bestimmend? Welche Metapher steht für dieses Jahrhundert?

Berlin hat die Jahrtausendwende mit zahlreichen kulturellen Veranstaltungen jeglicher Art gefeiert. Beim Kunstfest am Kulturforum in der St. Matthäus-Kirche wurde das von der Programmkommission für diese Feierlichkeit ausgewählte Café der Intuition vorgeführt, natürlich mit einem besonderen Programm, das ich speziell für diesen Anlass erarbeitet habe. Ich habe eine Bühnenfantasie realisiert, in der sich Tin Ujević, Gertrude Stein, Adrienne Monnier, Sylvia Beach, James Joyce, Ilja Ehrenburg, Sergej Jesenjin, Isadora Duncan, Federico Garcia Lorca, Amedeo Modigliani und Jean Cocteau treffen, mit Livemusik und in dem durch die Künstlerin Gudrun Fischer-Bomert malerisch verfeinertem Raum, in der schönen und für diese Veranstaltung eingerichteten Kirche.

Dieses Programm hat mich vollends in Beschlag genommen und mich sehr erfreut. Die Einladung zu einer derart wichtigen Manifestation hat nicht nur das Interesse und die Akzeptanz am Projekt „Café der Intuition/Poetencafé“ gezeigt, sondern tat auch die Möglichkeit auf mit Tins Worten die Jahrtausende zu verbinden und gerade ihn zum Gastgeber der künstlerischen Eminenz des 20. Jahrhunderts, in diesem Fantasiegebilde, zu ernennen.

Nein, es war keine nostalgische Reise mit großen Literatursprüchen und der Bohéme gesinnten Autoren, sondern der Inbegriff meiner Sammlung der Vergangenheit, die der Gegenwart gewachsen ist.

„Zeit ist stetiger Fortlauf der Vergangenheit, die bis zur Zukunft korrodiert und sich dabei nach vorne ausbreitet. Da sie ständig wächst, wächst sie in die Ewigkeit (hin)ein.“, schrieb H. Bergson[1]

 

Am Anfang des dritten Millenniums habe ich auch die Theater-Trilogie „Don Quijotes Doppelgänger“ realisiert. An diesem Stück habe ich mit meinen Mitarbeitern gute drei Jahre gearbeitet und die Uraufführung fand dann im Mai 2002 statt; drei Stücke, drei Perspektiven, an drei Orten wurde aufgeführt – eine Theaterreise.

 

Damals habe ich an einen etwas ruhigeren Anfang des ersten Jahrhunderts des neuen Millenniums geglaubt; ich dachte, die Zerstörungsphase ist hinter uns, neue Landkarten und geopolitische Karten wurden realisiert, sodass man nun in die Konjunkturphase übergehen kann. Ich habe mich geirrt.

Das Wind Spiel Theater habe ich in teNTheater umbenannt, da ich glaubte, dass die Zeit gekommen war sich mehr den Möglichkeiten und den Grenzen des Medienspektrums zuzuwenden.

Ich glaubte, dass ich mit der Trilogie „Don Quijotes Doppelgängner“ das dramatische Spiel der Winde im zerstörerischen W

indböengebiet zu Ende bringen würde. Ich habe mich geirrt.

Ich war überzeugt, dass ich den funkelnden Schatz an Erfahrungsreichtum aus der Arbeit am Wind Spiel auf andere Art und Weise in den kommenden Jahren nutzen werde, und das tue ich auch. Jedoch, der Gestank des Krieges, der Zerstörung und Fäulnis, wird unglücklicherweise immer intensiver, nur anders verteilt.

Und immer wieder: Menschen sterben, Menschen hungern, die Gewalt regiert.

Auch nach Berlin kommen immer mehr Flüchtlinge, Asylbewerber und Opfer bewaffneter, religiöser und wirtschaftlicher Auseinandersetzungen.

Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob die Wirtschaftspolitik zugleich auch ein Kriegsmanöver mit anderen Mitteln ist?

Obwohl die meisten vom Roman „Don Quijote“ von Cervantes gehört haben, haben die wenigsten diese eintausend Seiten auch gelesen. Nichtsdestotrotz sind einige Episoden aus dem Roman allbekannt und werden oft als allgemeinsprachliche Bezeichnungen verwendet, wie zum Beispiel der Kampf gegen Windmühlen, bzw. der Begriff gegen Windmühlen kämpfen. Don Quijote wurde zur Symbolfigur, auch für die, die den Roman nicht gelesen haben. „Der Ritter von der traurigen Gestalt“ ist wegen seiner Verwirrung zwischen Einbildung und Wirklichkeit für die einen ein Idealist und für die anderen in ständiger Beziehung mit der Welt, die ihn umgibt.

 

Ich habe bemerkt, dass die meisten Flüchtlinge in unbekannten Situationen kurz auflachen, wobei dieses Lachen eine Zuckung versteckter Angst darstellt, die sie nicht zeigen wollen.

Als Symbolfigur bringt uns der verprügelte Ritter mit seiner Beziehung zur Welt, in der wir selber leben, zum Lachen, daher war Don Quijote in der Trilogie der Spiegel des 20. Jahrhunderts, in dem sich die Ereignisse widerspiegelten und die Ritter-Doppelgänger bespiegelten.

Mich interessierten die assoziativen und wirklichen Überlappungen, Reflexionen, Ähnlichkeiten der Zustände des letzten Jahrhunderts des zweiten Millenniums mit denen im Roman.

Ist der Idealismus ein Verlust an Realität? In welchem Verhältnis stehen Wahn und Wahrheit? Ist in einem Jahrhundert mit zwei Weltkriegen und anderen Kriegen nicht der Wahn die offensichtliche Wahrheit?

Nein, es wird nicht geweint, Leid kennt keine Tränen; man sehnt sich eigentlich nur nach Umarmungen, einer Schulter, Wärme.

Wie findet man eine Umarmung?

Im Programmheft kann man sowohl über die Entstehungsgeschichte des Stücks als auch über die Dramaturgie und die Textmontage lesen.

Hegels Meinung über die vernünftige Wirklichkeit und die Zukunft, die sich an ihr stützt und anbaut, ist gewissermaßen überholt. Man muss sich daher nicht wundern, dass viele Schriftsteller die Figur des Don Quijote als Möglichkeit der Reflexion der Zeit, in der sie leben, nutzen, im philosophischen und politischen Sinne. Ich habe mich für drei von ihnen entschieden: Thomas Mann, Ludwig Tieck und Jorge Luis Borga.

In seinem, geografisch gesehen, sehr kleinem Land, La Mancha, war Don Quijote ständig in Bewegung, er reiste auf einer Topografie der Ungerechtigkeit, dessen Ursachen er annullieren und die Ungerechtigkeit aus der Welt schaffen wollte. Kann man eigentlich sagen, dass Don Quijote eine Art Metamorphose des Odysseus ist? Ist nicht er eine der Figuren, die seit den Zeiten von Homer bis heute, reisend tätig sind, aus subjektiven oder wahren Gründen, die eigene Existenz darin suchend die Dinge „ins rechte Lot“ zu bringen?

Er hat sozusagen seine Doppelgänger in die Welt gesandt.

Muss man die Realität enthaupten, um das Ideal des persönlichen Idealismus zu finden?

Die Abenteuer des Ritters sind Reiseerlebnisse, gleichermaßen haben auch seine Doppelgänger eine reiche Reiseerfahrung, der Verlagerung, des Lebens zwischen Räumen.

Ist hier eigentlich die Rede von Abenteuern? Sind das nicht einfach Notwehrreaktionen, ein Instinkt der Selbstverteidigung?

Thomas Mann flüchtete vor dem Naziregime mit dem Schiff nach Amerika, er las auf dieser Fahrt den Roman über Don Quijote und schrieb seine Tagebuchprosa „Die Meerfahrt mit Don Quijote“. Jorge Luis Borges kam nach Europa, um dort zu sterben, um dort die Turbulenzen seiner unermüdlichen Reisen in die Räume des Geistes und des Intellekts ausklingen zu lassen.

Die Übersetzung von Cervantes Roman über den Ritter der traurigen Gestalt ins Deutsche von Ludwig Tieck ist bis heute noch unübertroffen, sodass man fast denken könnte, es handele sich um seinen eigenen Roman.

Übersetzungen sind wie Wasser zwischen zwei Ufern, Widerspiegelungen zweier in einem. Doppelgänger.

Das Stück wurde an Plätzen in Berlin realisiert, die mit Geschichtserfahrungen getränkt sind. Busse fuhren die Zuschauer von einem Ort an den anderen, zwischen drei Orten, drei Aufführungen.

Die Aufführungen sind in der Zeit entstanden, als das wiedervereinte Berlin noch nicht herausgeputzt wurde und die Spuren der jüngsten Vergangenheit noch nicht aus dem Weg geräumt waren. Das ist wahrhaftig eine Stadt, in der Verbrechen und Strafe an einem Ort wiederzufinden sind und die Vergangenheit die Gegenwart neurotisch aussehen lässt.

Ein Spaziergang durch Berlin-Mitte war damals gleichzustellen mit dem Gang über Furchen und Gräber, als würde uns jeder Schritt näher an die rezenten Ereignisse bringen. Alles ist bereit für eine Transformation, für ein neues Bild der Stadt, jedoch braucht man für diesen Prozess, außer Willenskraft, Ideen, Geld und Zeit.

 

Das Prinzip der assoziativen Dualität mit Don Quijote habe ich auf allen Ebenen der Aufführung verwendet. Ich engagierte meistens Künstler, die vorher oder unmittelbar zu dem Zeitpunkt als ich das Ensemble zusammenstellte durch Erdbeben und Versetzungen, Flucht oder Flüchtlingskrisen, für einen kurzen Moment Halt in Berlin machten.

Demnach, habe ich keine Einteilung nach Rollen vorgenommen, sondern mich dafür entschieden diese Truppe zusammenzuführen, damit sie die Trilogie mit eigenen Erfahrungen bereichern können, indem sie sich am Angebot des Werks von Cervantes und der drei aufgeführten Schriftsteller orientierten.

Ich bemühte mich Widerspiegelungen und das Multiplizieren von Situationen, niedergeschriebene und durchlebte, vergangene und gegenwärtige Erfahrungen und Erlebnisse, zu kombinieren.

 

„Welche Riesen?“, fragte Sancho Panza

„Die du dort siehst,“ antwortete sein Herr, „mit den gewaltigen Armen, die zuweilen wohl zwei Meilen lang sind.“

„Seht doch hin,“ sagte Sancho, „dass das, was da steht, keine Riesen, sondern Windmühlen sind, und was Ihr für die Arme haltet, sind die Flügel, die der Wind umdreht, wodurch der Mühlstein in Gang gebracht wird.“

„Es scheint wohl“, antwortete Don Quijote, „dass du in Abenteuern nicht sonderlich bewandert bist, es sind Riesen, und wenn du dich fürchtest, so gehe von hier und ergib dich indessen dem Gebete, indem ich die schreckliche und ungleiche Schlacht mit ihnen beginne.“[2]

[1] Henri Bergson………………………

[2] Don Quijote

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