Menu

WissenDurst s.52-54

5.

 

DER WAHNSINN DER WAHRHEIT ODER DON QUIJOTE UND SEINE DOPPELGÄNGER

 

Ich betrachte mich im Spiegel: Der Brillenrahmen lässt meinen Blick ernster erscheinen, das Haar verspielt, kastanienbraun, mit der Asche der Jahre bestreut, hüpft nach links und nach rechts, in der Mitte nach der Form des Schädels geteilt.

Der Bart, grau, wächst unkontrolliert – bin ich das oder mein Doppelgänger? Vielleicht bin ich das Bild im Spiegel und dieser Fleischmantel, den ich trage mein Doppelgänger?

Wie auch immer, ich bin jeden Tag von Neuem überrascht, wenn mich der Spiegel anschaut.

Ich senke den Blick vom Spiegel und hebe die Handflächen nach oben, spreize meine Finger: Die Venen sind sichtbar, Hautfurchen, wie Linien einer Zeichnung, die Fingerkuppen bläulich, klare Linien der Handflächen.

Ich setze die Handflächen auf meine Knie, die Ellenbogen leicht im Raum geöffnet.

Ich sitze aufrecht und sehe die Vorderseite meiner Füße und meine Zehen. Ich lockere sie langsam, lasse die Energie bewusster in die Waden und weiter aufwärts fließen.

Ich muss aufstehen und einen Schritt machen; heute hat mich das rechte Bein hochgezogen, aus der Fußsohle, der Ferse heraus, das linke holt nach, aus den Knien heraus.

 

An einer Kreuzung, auf dem Betonpfeiler der Straßenlaterne sitzend, beobachte ich die Passanten. Ich bin entsetzt zu sehen, wie viele Menschen fremd in ihrem Körper sind, verzerrt, als würden sie über den Asphalt stöckeln und versuchen das Gleichgewicht zu halten.

WissensDurst begleitet mich.

Sind wir am falschen Ort, oder saugt die Nähe des Untergrunds, der S-Bahn die ganze Trauer der Stadt auf?

Wo eilen sie hin?

Wir beobachten die Passanten beim Gehen, einer grundlegenden Fortbewegungsart, charakteristisch für Menschen und Tiere. Beim Gehen gibt es keine Flugphase, es gibt kein Entfliehen von der Erde. Der Körper hat Kontakt zum Boden mit Füßen und Beinen und bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von etwa 1,5 km/h. Die Art des Fuß-Bodenkontakts und das Tempo unseres Gangs trägt unseren Körper, und formt gleichzeitig aktiv unseren Gang, die Leichtigkeit und die Schwere bzw. die Unstimmigkeit unseres Gangs auf Erden.

In diesem Moment hier zu sein, ist es das Resultat von Schnelligkeit und gezieltem Gehen aus einem bestimmten Grund, oder steckt etwas anderes dahinter? Ich habe kein einziges Lächeln, kein einziges offenes Gesicht gesehen.

Es ist früh am Nachmittag, bewölkt, im Januar. Um nach ihrem Gang zu urteilen, würden viele gerne jemanden oder etwas, vielleicht sogar sich selbst – verlassen.

WissensDurst stand auf, er versuchte unbemerkt zu bleiben, und übernahm von einer zufällig ausgewählten Person das Tragen ihres Kopfes auf den Schultern und ihres Körpers auf den Beinen, er spazierte so im Kreis. Er wiederholte es mehrmals, und versuchte vorzudringen in die geheime Seele der nachgeahmten Muskeln und Knochen in Bewegung. Dann fing er an zu kombinieren, verschiedene Teile der erlebten Körper auf die Beine zu stellen, die aus einer Gangart in die andere wechselten.

Eins, zwei, drei, Sprung und Drehung und dann in die andere Richtung. Gehen macht Spaß.

Es ist schwer sich aufzurichten, in der frühen Kindheit beim Laufen lernen, aber auch allgemein im Leben, ungeachtet des Alters.

Wer trägt die Verantwortung, wenn die Gelenke uns in Stich lassen? Der Körperbau oder der Lebenstil?

Schreiten erlebe ich wie Musik, und wenn man aus dem Takt gerät, dann muss man wieder die Harmonie der Musik walten lassen, falls wir nicht über unsere eigenen Füße gestolpert sind, und sogar dann.

Der Schritt ist ein musikalisches Intervall, ein Zwischenraum, Abstand zwischen zwei gleichen oder nacheinander folgenden Tönen.

Die Schritte spielen auf der ganzen Tonskala, doch wenn ein Schauspieler – eine Figur, den Schritt ändert, ist es, als würde sich ein neues Fenster für das Publikum öffnen.

 

WissensDurst hat mir gezeigt, dass es wirksam ist, den Schauspielern bei der Kreation ihrer Figur zu helfen, indem man sich auf das Gehen, den Fuß-Boden-Kontakt konzentriert. Jede Figur hat ihren eigenen Stepp – Tanz. Wenn der Schauspieler dieses Geheimnis lüftet und präzise spielt, wird die Bühnenfigur garantiert große Beachtung beim Publikum finden.

Auch im Verkehr wird manchmal das Schritttempo genutzt, in dem Fall fährt man etwa 3,6 km/h. Das bedeutet, dass man jede Sekunde einen Meter vorankommt.

 

Straßen leben mit ihren Passanten, sie wahren ihre Geheimnisse.

Es gibt Straßen, die wurden für große Paraden und besondere Anlässe gebaut, gewissermaßen zum Gedenken. Das Brandenburger Tor, gebaut auf Anweisung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II am Ende des 18. Jahrhunderts, ist das Wahrzeichen von Berlin. Es ist ein imposanter Ort, an dem Geschichte geschrieben wurde und große Anlässe der Gegenwart gefeiert werden. Hier werden sportliche Erfolge und Silvester gefeiert und es finden wichtige politische Ereignisse statt.

Das Brandenburger Tor markierte auch die Grenze zwischen Ost- und Westberlin, und dadurch zwischen zwei Deutschlands. Es war bis zur Wiedervereinigung zweier deutscher Staaten Symbol des Kalten Krieges und wurde danach zum Symbol des vereinten Deutschlands und Europas.

Viele Armeen gingen hindurch, zeigten ihre Macht, sie marschierten mit präzisem Tempo, vom Anlass abhängig zwischen 60 bis zu 140 Schritten pro Minute, der Doppelschritt im Marsch ist achtzig bis einhundertfünfzig Zentimeter.

Wenn man die Aufzeichnungen der Märsche, hier und woanders, aus dem Ersten Weltkrieg betrachtet, dann wird die Armee von einem Kavallerist, Reiter mit Degen angeführt; es wird in Reihen marschiert, drei in einer Reihe, die Hosen in den Stiefelbeinen, höher rangierte tragen Helme mit Verziehrungen, mit mächtigem Bart auf vielen Gesichtern.

Der Zweite Weltkrieg brachte ein geschmücktes Auto an die Spitze der Kolonne, Pferde für das Schleppen der harten Artillerie, Lastwagen mit und ohne Soldaten, überall Flaggen, geschmückte Häuser und Massen in nationaler Ekstase.

 

Trommeln, Trommeln, Trommeln!

 

 

 

 

Wie könnte man das 20. Jahrhundert als Theaterdarstellung resümieren? Was ist wichtig in ihm, überwältigend und für alles andere bestimmend? Welche Metapher steht für dieses Jahrhundert?

Berlin hat die Jahrtausendwende mit zahlreichen kulturellen Veranstaltungen jeglicher Art gefeiert. Beim Kunstfest am Kulturforum in der St. Matthäus-Kirche wurde das von der Programmkommission für diese Feierlichkeit ausgewählte Café der Intuition vorgeführt, natürlich mit einem besonderen Programm, das ich speziell für diesen Anlass erarbeitet habe. Ich habe eine Bühnenfantasie realisiert, in der sich Tin Ujević, Gertrude Stein, Adrienne Monnier, Sylvia Beach, James Joyce, Ilja Ehrenburg, Sergej Jesenjin, Isadora Duncan, Federico Garcia Lorca, Amedeo Modigliani und Jean Cocteau treffen, mit Livemusik und in dem durch die Künstlerin Gudrun Fischer-Bomert malerisch verfeinertem Raum, in der schönen und für diese Veranstaltung eingerichteten Kirche.

Dieses Programm hat mich vollends in Beschlag genommen und mich sehr erfreut. Die Einladung zu einer derart wichtigen Manifestation hat nicht nur das Interesse und die Akzeptanz am Projekt „Café der Intuition/Poetencafé“ gezeigt, sondern tat auch die Möglichkeit auf mit Tins Worten die Jahrtausende zu verbinden und gerade ihn zum Gastgeber der künstlerischen Eminenz des 20. Jahrhunderts, in diesem Fantasiegebilde, zu ernennen.

Nein, es war keine nostalgische Reise mit großen Literatursprüchen und der Bohéme gesinnten Autoren, sondern der Inbegriff meiner Sammlung der Vergangenheit, die der Gegenwart gewachsen ist.

„Zeit ist stetiger Fortlauf der Vergangenheit, die bis zur Zukunft korrodiert und sich dabei nach vorne ausbreitet. Da sie ständig wächst, wächst sie in die Ewigkeit (hin)ein.“, schrieb H. Bergson[1]

 

Am Anfang des dritten Millenniums habe ich auch die Theater-Trilogie „Don Quijotes Doppelgänger“ realisiert. An diesem Stück habe ich mit meinen Mitarbeitern gute drei Jahre gearbeitet und die Uraufführung fand dann im Mai 2002 statt; drei Stücke, drei Perspektiven, an drei Orten wurde aufgeführt – eine Theaterreise.

[1] Henri Bergson………………………

Leave a Reply

avatar
  Subscribe  
Notify of