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10. Verflechtung der realen und fiktiven Biografie auf der Bühne, weitere Seiten

Wer will überhaupt eure Meinung wissen, wird so mancher arroganter Politiker von sich geben, denn, wie kann man die Schließung dieses Paradieses überhaupt rechtfertigen?

Dieses Stück wurde so lange auf der „Volksbühne“ aufgeführt, solange ihre Schauspieler noch bei Kräften waren. Ich möchte hoffen, dass es lange genug aufgeführt wird, bis der Anstoß dafür gegeben wird ähnliche Heime zu öffnen und nicht schon bestehende zu schließen. Denn, älter werden wir alle, nicht wahr?

Johann Kresnik, Tänzer, Choreograf und Regisseur wurde im Dezember 1939 in St. Margarethen, Gemeinde Bleiburg geboren. Er war nicht nur Pionier des deutschen Tanztheaters, sondern auch Autor einer Reihe von provokativen und zweifellos sehr hochwertigen Theaterstücken, die das übliche Bewusstsein und die tanzübliche Ästhetik sprengen. Er nennt seine Theaterarbeit „choreografisches Theater“, und dank ihm ist diese Theaterform heutzutage verbreitet angenommen. Nichtsdestotrotz wird er unter seinen Kollegen und Kritikern als der „Berserker“ bezeichnet. Schon am Anfang seiner Karriere hatte er den Mut zu sagen, dass ihm das klassische Ballett nicht mehr zeitgemäß erschien, und so kam es, dass er seinen Ausdruck gesucht hatte, indem er auch auf der Tanzbühne offene Formen verwendete, inspiriert von den Auswirkungen der radikalen Schauspielbewegung der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts.

Sein erstes Bühnenstück aus dem Jahr 1967 war eine Collage aus Texten, von Psychiatriepatienten, die an Schizophrenie erkrankt sind. Seine künstlerische Entwicklung bestätigte sein Interesse an den für ihn relevanten Themen: Wahnsinn, Wut, Grenzüberschreitung und Tod.

Sein choreografisches Theater beschäftigte sich intensiv mit Persönlichkeiten, besonderen Menschen, Stücken, die aus biografischen Daten, biografischen Fiktionen, visionären Bildern und Brüchen der organischen Ganzheit zu einer Collage zusammengeführt wurden. Seine Inszenierungen „Sylvia Plath“, „Baudelaire“,  „Robberto Zucco“, „Hans Christian Andersen“, „Picasso“, „Frida Kahlo“ , um nur einige zu nennen, die ich mir angeschaut habe, sind expressive Schätze der Bühnenbrüche universeller Intimität. Ist das biografische Theater bzw. die Biografie gleichzeitig Werkzeug und Tatsache im Verhältnis zu den Personen, die den Künstler, den Menschen Johann Kresnik provozieren, faszinieren, nerven und anregen?

Diese Bühnenbiografien in Form von choreografischem Theater offenbaren eine zutiefst intime Beziehung zwischen dem Regieleiter-Choreografen und seinen Bühnenhelden –historischen Personen mit reichem künstlerischem Vermächtnis.

Was hat Kresnik dazu geführt, Biografien bekannter und nahezu anonymer Personen in Bühnenform darzustellen?

Reflektiert Kresnik in seinen Inszenierungen die Welt um sich herum oder seine innere Welt?

Ist sein choreografisches Theater etwa ein klassisches Künstlerdrama? Ein Künstler wird durch seine Empfindsamkeit, seine Sensibilität, den Widersprüchlichkeiten der Welt ausgesetzt. Sein kreatives Schaffen wird von etlichen Eindrücken überflutet, die verarbeitet werden müssen. Ein Weg der Verarbeitung führt zur Inszenierung der Eindrücke, zu einem Theaterstück, um seines, und um der anderen Willen. Das Drama des Künstlers Kresnik. Das Drama der Figuren-Persönlichkeiten, die er auf die Bühne bringt?!

 

III.

 

Das Sprechen ins Mikrofon, die Aufzeichnung der eigenen Stimme ist eine Möglichkeit sich nicht nur mit dem Inhalt auseinanderzusetzen, sondern auch mit der Stimme, die spricht, mit dem Engagement und der Emotion, die diese Stimme beim Sprechen begleitet. Es ist frappierend, wie oft sich unsere eigene Stimme fremd anhört. Wenn man das Aufgezeichnete abhört, melden sich sowohl das Thema als auch die Stimme aus der Vergangenheit. Durch das Zuhören werden die Personen, die gesprochen haben wieder verkörperlicht, daher werden sie manchmal ganz automatisch in Situationen erlebt, die wir nicht aus dem Gedächtnis verloren haben, wobei dies überhaupt nicht im Zusammenhang mit der Situation stehen muss, in der wir sie uns angehört haben.

Wenn man einer älteren Person ein Mikrofon vor den Mund hält, damit sie hineinspricht, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder wehrt sie sich gegen die Aufnahme, da sie das Gefühl hat, dass ihr etwas gestohlen wird, so hat es mir einst eine Person geschildert; oder sie geht darauf ein, womit die Erfahrung der Person, die man aufnimmt, an Wert erhält, jedoch muss man dabei sehr vorsichtig sein, dass man nicht die wahre Geschichte durch die Verschönerung des Erzählens verliert.

 

Becketts Stück „Das letzte Band“[1] ist in einem Akt geschrieben und handelt von einer älteren Person, die versucht aus dem Gedächtnis die Fragmente des eigenen Lebens aufzusammeln, indem sie ihre Fehler negiert. Solche paradoxe Situationen findet man in jedermanns Leben, selbst dann, wenn es nach einem ruhigen, logischen und maßvollen Leben aussieht. In Wirklichkeit ist das Leben voll von verschiedenen Fehlern, Überraschungen, ungerechtfertigten und ungeklärten Dingen.

Becketts Stücke sind der pure Existenzialismus, der Kern der Lebenszustände, die Figuren sind zeitlos, sie gehören „einer unveränderlichen Zeit und dem absoluten Raum“ an. Die Schauspieler könnten sagen, man müsste gar nicht spielen; dabei hilft ihnen auch das künstlerische Geschick des Regisseurs.

Ein Schauspieler lebt in seiner Rolle, diese Rolle stellt das Symbol für einen Zustand, einen existenziellen Moment dar, der zu jedem spricht. Er ist eher daran erkennbar, dass er in jedem aufzufinden ist, als dass er eine originelle Persönlichkeit hätte  Beckett ist ein Philosoph, und dass begleitet ihn in all seinen Schreibformen: Er hinterfragt und wir lesen das, was er hinterfragt. Becket lehrt uns nicht und er erzählt keine Geschichten. Eigenartig, so ein Theater, dass sozusagen die Essenz des Lebens aufgegriffen hat.

In Berlin habe ich bei „Die glücklichen Tage“ Regie geführt und war schwer damit beschäftigt keine Regie zu führen; aber, was ist das dann, was ich bei den Proben gemacht habe, als ich das Stück für die Bühne vorbereitete? Becketts Werk und sein Denken sind meiner Meinung nach die wichtigste Inspiration bei der Schauspielmethodik bzw. der Ausbildung eines Schauspielers im 21. Jahrhundert. Dieser Dramatiker war seiner Zeit voraus und hat mit seinen Stücken so viele Barrieren überwunden, bzw. die Überzeugung vieler widerlegt, dass man Theater für das Hier und Jetzt machen müsste. Das, worüber er geschrieben hat, gehört keiner bestimmten Zeit an, und ist gleichzeitig aber auch nicht außerhalb der Zeit.

Sein Werk muss zuerst untersucht und hinterfragt werden. Etwas Ähnliches kann man auch bei der Künstlerin Yayoi Kusama wiederfinden, in ihren obsessiven, von Halluzinationen geprägten Bildwerken.

[1] Original „Krapp‘s last tape“ Inszenierung von Samuel Beckett aus dem Jahr 1958

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