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Etwas Fremdes in mir – Tryptichon – III s. 92-94

9.

 

Die organische Gesamtheit der zerrissenen Persönlichkeit

 

1.

Was wäre, wenn ein Kind seinen Namen nicht von seinen Eltern bekäme?

Die Eltern würden dem Kind einen vorläufigen Vor- und Nachnamen geben, wobei das Kind im Erwachsenenalter den Namen annehmen oder ändern könnte. Der gewählte Vor- und Nachname würde in ein Register der Erdenbewohner, bzw. im entsprechenden Register des Landes, in dem es lebt, aufgenommen.

Diese Fantasie erscheint vielleicht etwas verwirrend, aber versuchen Sie diese Idee richtig nachzuvollziehen.

Das würde natürlich die Flexibilität des Individuums und der Gesellschaft verstärken. Was für ein Unsinn, könnte man jetzt denken; jeder Mensch ähnelt einem anderen Menschen, er ist aber gleichzeitig auch ganz verschieden, ein Individuum eben. Was wäre, wenn es auf der Welt so viele verschiedene Namen gäbe, wie viel es verschiedene Menschen gibt? Jeder hat seinen Namen. Einen Namen, ohne Nachnamen. Das würde zur Folge haben, dass es nirgendwo zwei Menschen mit dem gleichen Namen gäbe. In welchem Maße würde diese Fantasie die traditionellen Strukturen der Gesellschaft aufrütteln? Welche Folgen hätte das für die Kunst, vor allem für die Literatur?

Könnten die Figuren Julia, Hamlet, Ariadne, Ödipus, Antigonos und eine weitere Vielfalt an verschiedenen Figuren in einer solchen Gesellschaft ihre Universalität, ihre Symbolik und ihre mythologische Bedeutung bekommen, bzw. behalten?

Das Spiel mit der Namensgebung benutze ich gerne bei meinen Theaterproben, da es einen inspirativen Abstand zu dem, an dem gearbeitet wird, schafft und gleichzeitig überraschende Resultate bei der Aussprache verschiedener Zeilen, die auf der Bühne gebraucht werden, ergibt. Bei der Kreation der eigenen Rolle reagiert der Schauspieler auf das Handeln von anderen Figuren bei ihrem Bühneneinsatz, indem er ihnen Kosenamen gibt, ihnen verschiedene Attribute zuordnet oder ihre Namen verdreht, und sie völlig anders benennt. Das Wiederholen des Namens eines Gesprächspartners nach jedem zweiten Wort potenziert die (Un)Wahrheit eines Satzes.

Man kann den versteckten Sinn eines Satzes ebenfalls herausfinden, indem man die Person, die angesprochen wird, mit einer anderen Variante ihres Namens anspricht, oder sie in einem anderen Tonfall anspricht. Wenn man den Namen einer Person anders formt oder verdreht und dabei an etwas ganz anderes denkt, dann öffnet sich ein Raum der emotionalen Bedeutung dessen, was ausgesprochen wird.

Wenn sich ein Schauspieler auf seine Rolle vorbereitet, dann kann er der imaginären Figur seinen eigenen Namen geben und abwarten, welche Reaktionen das bei der Figur hervorrufen wird. Die Dramatik, die sich in diesem Rollenspiel auftut, ist vor allem auf den gegenseitigen Kampf zwischen Schauspieler und Figur zurückzuführen, und erst nachrangig auf das Handeln in einer bestimmten Situation. Falls man dieses Schlachtfeld auch während der Aufführung sehen kann, dann stellt es eine interessante Zerrissenheit der organischen Gesamtheit dar.

Kann man überhaupt auf der Bühne, ohne das Funkeln aus dem Riss der organischen Gesamtheit der Person, die eine Rolle spielt, spielen?

In welchem Verhältnis steht die Privatsphäre des Schauspielers und der gespielten Rolle?

 

2.

In der Kunst gibt es viele Beispiele des bewussten Einsatzes von Heteronymen. Handelt es sich dabei wirklich um bewusste Entscheidungen? Das ist meistens ungenügend erforscht. Handelt es sich um eine bewusste Entscheidung eines Autors oder um den Selbsterhaltungstrieb eines „bösartigen Dämons“, der den Autor beherrscht? Bei vielen Werken, die von Heteronymen geschrieben wurden, kämpft dort der Autor mit seinen inneren Stimmen oder gegen sie?

Wenn wir von der Dichtkunst reden, dann ist Fernando Pessoa (1888-1935) einer der bekanntesten, eigentlich Fernando António Nogueira de Seabra Pessoa, ein portugiesischer Dichter, Schriftsteller, Angestellter eines Handelshauses und Geisteswissenschaftler. Er verfasste seine Werke hauptsächlich unter den drei Heteronymen Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos und Bernardo Soares. Weitere Heteronyme Pessoas waren Charles James und Alexander Search.

Ein Pseudonym ist ein erfundener Name, der anstelle des richtigen Namens verwendet wird, unter dem eine Person handelt. Künstler verwenden häufig Pseudonyme.

Das Heteronym ist weitläufiger als das Pseudonym. Es ist das Erlebnis der Existenz verschiedener Individuen in der Person selbst, quasi als Alter Ego. Pesoa hat seinen Heteronymen einen Charakter und eine Identität gegeben und ihnen mit seiner Poesie auf diese Weise gleichermaßen bewusst und unbewusst ihre Existenz ermöglicht.

Pessoa ist ein „Klammerhalter“ seiner inneren Stimmen.

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